„Woran denkst du, Ella?“ Seine Hand nimmt ihre und er zieht sie vorsichtig zu sich. Etwas in ihr zerbricht. Sie wird wahnsinnig wütend. Wie kann er es wagen hierherzukommen, über ein Jahr danach, und dann eifersüchtig werden, wenn sie endlich den nächsten Schritt gemacht hat? Wie kann er es wagen so zu tun, als ob er an ihren Gefühlen interessiert ist, um ihr eine Sekunde später ein Messer in den Rücken zu rammen?
„Ich brauche nicht gerettet zu werden, Victor.“ Sie funkelt ihn böse an und zieht die Hand weg. Hat sie diesen Mann wirklich geliebt? Hat sie ihn wirklich vermisst – sich nach ihm gesehnt? „Ich will es nicht noch mal versuchen, wir funktionieren nicht zusammen. Es gibt auf meiner Seite keine Gefühle, auf die man aufbauen kann. Gestern ging es nur um Sex. Nichts sonst.“ Ihre harten Worte lassen ihn zurücktaumeln.
Die alte Ella wäre ihm in den Arm gesprungen und hätte „Rette mich!“ geschrien, aber die alte Ella war ausgetauscht. Die neue Ella wendet ihm den Rücken zu und geht. Lässt ihn allein zwischen den Pflanzen zurück, genau wie er sie einst verlassen hat.
Das Spiel mit Claude macht so lange Spaß, wie sie frei ist. Sie hat es genossen, gehegt und geschätzt zu werden. Begehrt und auf ein Podest gestellt zu werden. Aber plötzlich ist das Schöne am Ganzen wie weggeblasen. Sie ist zu einem Wettbewerb geworden. Victor will sie retten. Claude schließt seinen Griff immer härter um sie. Steckt ihr besonders viel Taschengeld zu. Kauft unnötig teure Geschenke.
Ihr freier Sommer, die Möglichkeit, ihren Körper noch weiter zu entdecken – mit jemand anderem zusammen – hat sich von einer herrlichen Unbeschwertheit zu einem Leben voller Regeln und Ängste entwickelt. Sie ist nicht mehr diejenige, die die Kontrolle hat –stattdessen merkt sie, wie sie immer mehr von dem Mann an ihrer Seite kontrolliert wird. Das muss ein Ende haben.
An dem Abend, als sie mit Claude im Grand Hotel zu Abend isst, sagen sie nicht viel zueinander. Claude kann nicht aufhören daran zu denken, was sie getan hat, wie alt er ist im Vergleich zu ihr, und dass es immer jüngere und besser aussehende Männer geben wird, die sie haben will. Aber die haben dafür nicht sein Geld.
Er kann ihre Gesellschaft kaufen, aber ihre Liebe würde er nicht kaufen können, so sehr er es auch versuchte. Tief innendrin weiß er, dass es vorbei ist – er sieht es in ihrem leeren Blick. Sie ist mit den Gedanken woanders. Er räuspert sich und sagt mit zusammengebissenen Zähnen: „Ella, du musst wählen.“
Als sie die Tür aufschließt, fällt ihr ein Haufen Werbung, Zeitungen, Rechnungen und Briefe entgegen. Sie klettert hinüber und sieht sich in dem kleinen Zimmer um. Das Bett steht da, wo sie es verlassen hat, unordentlich gemacht und voller Bücher. Der Laptop liegt auf dem Stuhl am Fußende und die Pflanzen in den Fenstern lassen die Köpfe hängen. Es riecht nach Kaffee, ein wenig nach Parfüm und etwas nach Staub. Sie ist wieder zu Hause in ihrer engen Einzimmerwohnung. Allein, zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit. Sie lächelt breit und spürt, wie ihre Lungen sich mit Luft füllen und sich in ihrem Brustkorb weiten. Der Duft der Heimat, der Freiheit. Sie ist so glücklich, dass sie sich selbst gewählt hat.
Showgirl: Erotische Novelle
„Jetzt stoßen wir an – auf Ella!“ Ihr Vater strahlt sie an. Man sieht in seinen Augen und an seiner Haltung und man hört in seiner Stimme, wie stolz er auf sie ist. Der Garten hallt von den Reaktionen, den fröhlichen Hurrarufen und Beglückwünschungen von Familien und Freunden wider. Ella sitzt mittendrin und lächelt, während sie für den unmittelbaren Weltuntergang betet.
„Also, Ella, was hast du jetzt vor?“, fährt ihr Vater fort. „Kannst du nicht mal herkommen und uns erzählen, was als Nächstes passiert?“ Da war es. Das Todesurteil. Ella sieht, wie sich ihr alle erwartungsvollen, neugierigen Gesichter zuwenden – bereit, an ihrem Lebensplan teilzuhaben. Den Lebensplan, den es nicht gibt. Wie erzählt man seinen Eltern, seinen Verwandten und seinen entfernt bekannten Freunden, dass man die Prüfung zur Sozialarbeiterin gemacht hat, dass man drei Jahre lang richtig hart dafür gearbeitet hat, und dass man alles verabscheut, was damit zu tun hat? Dass man nie in diesem Beruf arbeiten will?
„Ähm … danke, dass ihr heute alle gekommen seid. Und danke für all die tollen Geschenke“, beginnt sie mit zittriger Stimme. Ihre Hände zittern nervös. „Ich hab keinen direkten Plan.“ Sie lacht nervös – sie sieht, wie die schlechte Stimmung sich über den Garten legt. „Oder doch … ich werde nach Stockholm ziehen.“ Das ist neu. Stockholm? Ihre Eltern sitzen mit offenem Mund da, wahrscheinlich haben sie einen Schock. „Ich habe von einem … Freund gehört, dass sie dort Kuratoren für eine Grünanlage für junge Erwachsene suchen. Nächste Woche habe ich ein Vorstellungsgespräch.“ Sie sieht, wie alle Gäste – besonders ihre Eltern – erleichtert aufseufzen. Es gibt einen Plan. Alles ist, wie es sein soll. Ella ist schon fast selbst davon überzeugt.
Ella packt ihre letzten Besitztümer zusammen und sieht sich ein letztes Mal in ihrer engen Einzimmerwohnung um. Ihr Zuhause. Als sie auf ihrer Examensfeier Panik bekam und hervorstotterte, dass sie nach Stockholm ziehen würde, hatte sie nicht einberechnet, wohin ihre Lüge führen würde. Sie würde ihre Wohnung verlassen und fast 500 km weit wegziehen müssen, in eine ganz neue und unbekannte Stadt.
Ihre Eltern hatten eine kurze Weile gebraucht sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ihre Tochter nach Stockholm ziehen würde, doch dann wurde aus ihrem Schock und ihrer Verzweiflung ein Gefühl unglaublichen Stolzes. Sie sind davon überzeugt, dass Ella in Stockholm große Taten vollbringen wird. Ella ist ihrerseits nicht so sehr überzeugt davon. Sie hat weder einen Job, noch eine Wohnung. Stockholm ist eine teure Stadt – das ist etwas ganz anderes als ihr Heimatort, in dem man eine Falafel für 30 Kronen bekommt. Ella will sich gar nicht vorstellen, was eine Falafel in Stockholm kostet. Aber sie hat einen Plan B. Wenn alle Stricke reißen, denkt sie, kann ich immer noch als Camgirl arbeiten. Mit dem Gedanken fühlt sich alles etwas leichter an.
Sie seufzt tief und lässt ein letztes Mal ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Erinnert sich an den Tag, an dem sie einzog, das Gefühl der Freiheit, wie sie in genau diesem Zimmer den ersten Orgasmus ihres Lebens bekam und wie sie danach den ganzen Sommer damit verbrachte, sich vor Publikum selbst zu befriedigen. Sie erinnert sich an das Gefühl, als sie letzten Sommer zurückkam – die Sicherheit, die ihr diese Wände boten. Und plötzlich fühlt sich die Wohnung kleiner als je zuvor an.
Ella ist in den letzten Jahren so viel gewachsen in diesem engen Zuhause. Sie kann nicht den Finger darauflegen, aber irgendwann muss sie aus der Wohnung herausgewachsen sein. Dieses Zimmer mit der Kochnische ist das letzte Überbleibsel von der alten Ella. Als ihr dieser Gedanke kommt, fühlt sie, dass sie mit diesem Teil ihres Lebens abgeschlossen hat. Als sie da steht, die Hinfahrkarte nach Stockholm in der Hand, und sich von dem Letzten verabschiedet, das sie hier noch hält, fühlt sie sich das erste Mal bereit – neugierig auf das, was kommen mag.
Sie hatte sich selbst eine Woche gegeben. Eine Woche, um so viele Vorstellungsgespräche wie möglich zu führen. Eine Woche, um eine – eher – dauerhafte Bleibe zu finden. Seit sie nach Stockholm gekommen war, hatte sie bei einer Bekannten auf dem Sofa geschlafen, die keine besonders nahestehende Freundin war. Nicht länger als eine Woche, hatte sie sich nach der ersten Nacht geschworen, als sie mit schmerzendem Rücken aufgewacht war und dann am schrecklichsten Frühstück ihres Lebens teilnehmen musste.
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