Wie steht es um das Verhältnis der Philosophie zum Zeitgeist? Geht es in der Philosophie nicht ganz im hegelschen Sinne darum, ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen?
Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass es eine immer gleichbleibende Aufgabe der Philosophie gibt, sie muss sich ihre Aufgaben in jeder Generation von neuem suchen. Was die Philosophie als Lebensform angeht, so betrifft sie seit jeher nur die Einzelnen und hat folglich keine andere Mission als die, die Individuen in ihr Optimum zu bringen. Nach der politischen Seite hin ist ihre beratende Funktion virulenter denn je. Was mir vorschwebt, ist ein Forum für Philosophie als zivilisatorisches Pädagogicum. Sie muss die Rolle einer Moderatorin im Übergang zur Weltkultur spielen lernen, ausgehend von der Einsicht, dass es keinen Zusammenstoß der Zivilisationen gibt, sondern den Zusammenstoß der lokalen Kulturen mit dem Zivilisationsprozess.
Welche Bedeutung hat das Scheitern für die Philosophie? Ist die Philosophie nur die Kunst des gekonnten Scheiterns?
So weit sollte man doch nicht gehen. Immerhin, es gab in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert tatsächlich eine philosophisch betreute Kunst des Scheiterns. Das hat damit zu tun, dass die Deutschen den Existenzialismus lange vor den Franzosen entwickelt hatten, während die Franzosen ihn erst unter der deutschen Okkupation kopierten. Die Unterschiede sind erheblich: Die Deutschen waren seit jeher Trotz-Existenzialisten mit anthropologischen Interessen, die Franzosen hingegen wurden Widerstands-Existenzialisten mit politischem Fokus. Die Franzosen haben von unserem Existenzialismus, nach welchem am Anfang die Behinderung war, nur das Moment des politischen Widerstands herausgefiltert, ohne zu merken, dass hinter dem Konzept „résistance“ das viel breiter angelegte heroische „Trotzdem“ stand. Darüber habe ich einen größeren Aufsatz geschrieben, dessen Thema mich mit sehr anregenden Umkehrungen gewohnter Fragestellungen vertraut gemacht hat. Ich habe einen seltsamen Autor aus den 20er, 30er Jahren ausgegraben, einen Nietzscheaner namens Hans Würtz, den Vordenker der deutschen staatlichen Krüppelpädagogik und Pionier einer neuen Disziplin, die man geradewegs die Krüppelanthropologie nannte. Bei ihm kann man sehen, was aus Nietzsches Denken wird, wenn man es in einem Behindertenheim zu Berlin jeden Tag auf die Probe stellt. Hier wurde erst klar, was das Theorem vom Leben als Wille bedeuten kann. In Deutschland gab es nach dem Ersten Weltkrieg 2,7 Millionen Kriegskrüppel, Einarmer, Einbeiner, Kopfverletzte, eine Enzyklopädie unvorstellbarer Dramen. Behinderung war damals das Epochenthema – und wenn Freud seinerzeit vom Menschen als Prothesengott sprach, griff er das Bonmot aus dem Zeitgeist auf. Auch Würtz hat damals Morgenluft gewittert und geglaubt, der Krüppel sei der neue Mensch, ja vom Krüppel her müsse man die ganze Menschheitsfrage neu denken. Er blätterte in den Archiven und fand heraus, dass alle interessanten Menschen aller Zeiten Krüppel waren: Cäsar, Paulus, Michelangelo, Ignatius von Loyola, Lord Byron, Nietzsche, das ganze Who is who der Weltkultur. Würtz wurde 1933 eliminiert, weil er in seinem Hauptwerk Zerbrecht die Ketten von 1932 die schlechte Idee gehabt hatte, Joseph Goebbels zweimal zu erwähnen – einmal in der Nationenliste und einmal in der Funktionen- oder Berufsspartenliste. Mit dieser Art von wissenschaftlicher Objektivität konnte Goebbels nicht viel anfangen. Mir fiel es bei der Lektüre dieses verschollenen Werks wie Schuppen von den Augen: Alle wesentlichen Autoren der philosophischen Anthropologie haben damals angefangen, den Behinderten als Paradigma des Menschen darzustellen, Louis Bolk, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, selbst Sigmund Freud, wie gesehen. Und hat nicht auch die zeitgenössische Biologie diese Lesart bestätigt? Der Mensch ist von Natur aus eine Missgeburt, weil er eine chronische Frühgeburt darstellt. Nur Krüppel werden überleben.
Solche biologischen Fragen spielten auch in Ihrer sogenannten Elmauer Rede eine Rolle.
Darüber brauchen wir nicht lange reden. Mein 2009 erschienenes Buch trägt den Titel Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik . Darin werden die Fragen, die mich in der Menschenpark-Rede beschäftigt haben, auf indirekte Weise noch einmal aufgerollt. Diesmal aber gehe ich der Frage, wie der Mensch den Menschen erzeugt, viel radikaler auf den Grund. Die Antwort wird heißen: Er erzeugt sich im Wesentlichen durch Übungen, durch Askesen, durch Training und durch akrobatische Überspannungen. In diesem Buch wird nur sehr wenig von Gentechnik die Rede sein, umso mehr von Meditation, von religiös codierten Übungsexzessen, von Kapitalismus als Anthropotechnik und von der Disziplin großer Künstler.
Der Zeitgeist gibt den Philosophen im Augenblick sehr viele ermutigende Signale. In Frankreich gibt es in jeder Stadt philosophische Cafés. In Italien blühen in einer Reihe von Städten, in Udine, in Modena, in Neapel, in Rom und so weiter große Philosophiefestivals auf, manchmal mit Zehntausenden von Besuchern. Da kann man erleben, wie mehrere tausend Menschen auf einem Platz unter freiem Himmel sitzen und einem Vortragenden zuhören. Für jeden Philosophen ist das eine Erfahrung, die er machen sollte. Wenn man in einem kleinen Hörsaal voller Kollegen spricht, hat man das Recht, sie bis zum Umfallen zu langweilen. Aber vor zwei- oder dreitausend Menschen – da fragt man sich unwillkürlich: Ist meine Rede es wert, dass so viele Leute eine Stunde in der glühenden Sonne sitzen? Ganz offensichtlich wollen die Leute zurück zur Philosophie. Sie wollen etwas hören, was ihnen zu denken gibt. Die Akademiker ihrerseits müssten nur besser auf das hören, was ihnen von dieser Seite zugerufen wird. Damit fallen viele Scheinkonflikte an der Front zwischen Philosophie und Rhetorik beiseite, auch solche, die gelegentlich im Umfeld meiner Arbeit auftraten.
JÜRGEN MITTELSTRASS
Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?
Bei einer Straßenumfrage haben wir Passanten gefragt, was sie unter Wahrheit verstehen. Was antwortet uns der Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß ganz spontan auf diese Frage?
Wahrheit ist der Wunsch aller Philosophen. Das heißt, Wahrheit ist das, was in einem theoretischen Zusammenhang in dem Sinne wahr ist, dass es ein Stück Wirklichkeit angemessen wiedergibt. Zugleich ist es etwas, das sich im Dialog, gegenüber Einsprüchen und konstruktiver Kritik bewährt.
Folglich existiert für Sie so etwas wie eine Wirklichkeit. Vertreten Sie eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, derzufolge Wahrheit ein Maß für die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit ist?
Nein. Ich will nicht bezweifeln, dass es eine Wirklichkeit gibt, aber der Begriff der Wirklichkeit im Zusammenhang mit Wahrheitstheorien hat seine besonderen Schwierigkeiten. Allzu leicht ergibt sich im Sinne einer solchen Korrespondenztheorie der Wahrheit die Vorstellung, es gäbe auf der einen Seite so etwas wie die Wirklichkeit, auf der anderen Seite unsere Welt der Worte. Wahrheit in der Welt der Worte wäre dann die spiegelbildliche Abbildung der Wirklichkeit. So einfach ist es eben nicht. Wir müssten dann einen direkten, nichtsprachlichen Zugang zu dieser Wirklichkeit haben. Und einen derartigen Zugang haben wir nicht, weil wir immer schon von Wirklichkeit als einer gegliederten, unterschiedenen, damit auch sprachlich gegliederten und sprachlich unterschiedenen Wirklichkeit sprechen.
Ist Wahrheit demnach etwas Relatives?
Nein, das ist damit nicht gesagt. Relativ vielleicht nur insofern, als es „die“ Wirklichkeit als „die“ Instanz, die über wahr und falsch entscheidet, nicht gibt. Die Behauptung, dass die Wahrheit relativ sei, ist eine Behauptung, die sehr viel weiter geht, sie besagt, dass sich Geltungsansprüche – Wahrheitsansprüche sind Geltungsansprüche – nie einlösen lassen. Das meine ich nicht. Innerhalb eines bestimmten theoretischen Rahmens ist Wahrheit nicht relativ.
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