In diesem Zusammenhang fällt der Begriff der demokratischen Esoterik. Was hat es damit auf sich?
Der Begriff „demokratisch“ ist hier natürlich nicht politisch zu verstehen, sondern wissenschaftstheoretisch. Demokratisch ist eine Theorie dann, wenn sie so etwas wie Waffengleichheit der diskursiven Bedingungen unterstellt. Esoterik hingegen ist die Rede von Verborgenem, also von Dingen, die entweder kontraintuitiv sind oder schwierige Zugangsvoraussetzungen haben. Wenn man etwa eine genetische Theorie der Paarbeziehung entwickeln will, wie ich es in Sphären I versuche, kommt man an einen Punkt, wo es wirklich ein wenig abgründig wird. So etwa, wenn man sich fragt: Hat der Fötus eine Beziehung zu seinem mütterlichen Milieu? Vermutlich ja. Nur, wie sieht es dann mit dem kognitiven Zugang zu solchen verborgenen Verhältnissen aus? Hieran ist nichts öffentlich und evident. Ich kann mich ja nicht mit dem Kollegen Habermas am Eingang zum Mutterleib verabreden. Aus dieser Verlegenheit ergab sich die am stärksten literarisierte Stelle im ersten Band der Sphärentrilogie: das ominöse Mutterleibskapitel, in dem ich Sprachformen verwende, die ein radikal intuitives Verständnis evozieren. Da will ich etwas sagen, was man in der ersten Person sinnvollerweise nicht sagen kann, vielleicht auch gar nicht sagen soll, weil es ja eine unwahrscheinliche Indiskretion impliziert. Ich habe an der kritischen Stelle, wo es am indiskretesten wird, Fotografien von einer indischen Yoni-Höhle eingefügt, die eine große Vulva zeigen, und überlasse es dem Leser, sich Rituale vorzustellen, bei denen Initianten dort hindurch geschickt werden. In Fellinis Casanova-Film gibt es eine ebenso anzügliche Stelle, wo die Große Muna auftaucht, eine betretbare weibliche Öffnung, als Jahrmarktsattraktion. Mir ging es in Sphären I darum, solche Figuren für die philosophische Untersuchung zu erschließen.
Selbst wenn man, wie ich es tue, eine zweipolige Subjekttheorie vorschlägt, stellt sich die Frage, ab wann ein Subjekt für sich und seinen Anderen vorhanden ist. Für Fichte ist das Problem fürs Erste einfach zu lösen, weil bei ihm das Subjekt von dem Moment an da ist, wo es sich setzt. Darum sagt er ja sehr schön, Eltern sollten als den eigentlichen Geburtstag ihres Kindes den Tag feiern, an dem es zum ersten Mal „ich“ sagt – das ist das sprachliche Vorspiel zur Selbstsetzung. Kurzum, ich denke, der Ausdruck Esoterik wird hier nicht unzulässig verwendet. Mit der obskuren Mystik der Bahnhofsbuchhandlungen hat das alles nicht das Geringste zu tun.
In Ihrem Roman Der Zauberbaum wird einem angehenden Arzt geraten, sich mit der Gebärmutter als einem zu wenig erforschten Organ auseinanderzusetzen, und dann, 20 Jahre später, gibt es ein entsprechendes Kapitel in Ihrer Sphärentrilogie.
Das hat bisher, scheint mir, niemand außer Ihnen bemerkt. Jedenfalls ist der Zusammenhang gut gesehen: Da hat sich eine Motivwanderung vollzogen. Einen Zwischenschritt findet man vielleicht in einem entsprechenden Kapitel in der Kritik der zynischen Vernunft , wo vom Zynismus der Mediziner die Rede ist. Der alte Herr, der im Roman diese makabren Sachen sagt und der an das Glas klopft, in dem eine Gebärmutter in einer durchsichtigen Lösung schwebt – das ist so ein Zyniker alten Schlags. Im Übrigen versuche ich in der Kritik , den ärztlichen Zynismus als Inkognito eines Humanismus zu schildern. Tatsächlich wandern mehrere Motive dieser Art durch meine Bücher hindurch. Das ist wohl ein Reflex der Tatsache, dass ich zu dieser unglückseligen Generation gehöre, die nach 1968 an den neuen Menschen geglaubt hat, der mit tiefenpsychologischen Mitteln befreit werden sollte. So wie man heute, allerdings nur satirisch, behauptet: „In jedem Iraker steckt ein Amerikaner, der heraus will“, so haben wir damals, ganz ernsthaft, gesagt: „In jedem Bürger steckt ein Kind, das heraus will“. Das Kind als Garant eines Neuanfangs.
War das nicht eine romantische Vorstellung?
1968 war der letzte Seufzer der politischen Romantik. Ich bin damals durch den Schleudersitz der Zynismusanalyse aus diesem System ausgestiegen. Die nächsten Schritte waren meine Reise nach Indien und dann die Phänomenologie heideggerschen Stils.
Welche Bedeutung hatte Ihr Indienaufenthalt für Ihr Denken?
Sie müssen wissen, dass ich anfangs sehr stark von der Phänomenologie husserlschen Typs geprägt war, weil ich als Schüler von Bernhard Waldenfels in München in diese Denkschule initiiert wurde. Erst nach Indien habe ich angefangen, Heidegger zu lesen, weil ich damals nach einer europäischen Theorie suchte, die mir helfen sollte, die Erfahrung des östlichen Denkens zu integrieren. Nach meiner Rückkehr aus Indien habe ich verstanden, was Heideggers Intervention bedeutete – nicht weniger als den längst fälligen Versuch, sich aus dem 2500-jährigen Reich der europäischen Metaphysik herauszuwinden. Und da ich in Indien eine ganz andere Form von Denken kennengelernt hatte, hatte ich eine ungefähre Vorstellung, wie diese Herausdrehung geschehen könnte.
Heute fahren wir aber nicht mehr einseitig nach Indien, die Inder kommen jetzt auch als Agenten der Globalisierung zu uns. Das scheint die Rache des Orients zu sein, und es hat lange gedauert, bis ich verstand, dass sie eigentlich schon damals begonnen hatte. Wir Okzidentalen hatten unseren Orient als Kinderstube des Weltgeistes in Beschlag genommen und unsere eigenen Anfänge dorthin projiziert. Aber dass es eines Tages eine indische Replik geben musste, war uns nicht klar. Inder sind große Realisten. Wenn sie sich fragen: Was haben wir, was wir exportieren könnten? Dann lautet ihre Antwort ganz nüchtern: Wir haben kein Erdöl, wir haben keine Kohle, wir haben nichts, womit man dem Westen imponieren kann – außer mit Religion und Rechenkapazitäten. Probieren wir’s fürs Erste mit der Religion. Bhagwan Shree Rajneesh alias Osho war sicher der genialste Erfinder einer Exportreligion und zugleich ein großer Aufklärer in Religionsdingen. Alles, was er tat, lief auf die Maxime hinaus: Die effektvollste Form, den Fetisch Religion zu ruinieren, ist, selber eine zu gründen.
In Ihrem Buch Die Kritik der zynischen Vernunft kritisieren Sie das westliche Ich-Denken, das Jacques Lacan als „die Geisteskrankheit des Westens“ bezeichnete.
Ich bin nicht sicher, ob ich das heute noch in derselben Weise sagen würde. Ich höre in dieser Art von Ich-Kritik, die von Augustinus bis Lacan reicht, doch immer wieder nur das katholische Gemeckere gegen den sündhaften Stolz des Menschen heraus, und mir scheint das kein fruchtbarer Ansatz mehr zu sein. Es ist die gute alte Anti-Egoismus-Propaganda, die zu allen klerikokratischen Systemen (Priesterherrschaften) gehört. Klerikokratie beruht darauf, dass man die Menschen als Egoisten diagnostiziert und vorgibt, ihnen bei der Überwindung dieser tödlichen Krankheit zu helfen. Das Ego ist aber nicht die Krankheit des Westens, es ist die Krankheit von Menschen in klerikokratischen Systemen. Die Psychoanalyse französischen Typs war hoffentlich die vorerst aktuellste Zuspitzung dieser Tradition. Lacans Psychoanalyse verkörperte in gewisser Weise den Versuch, die Psychoanalyse von ihren jüdischen Tönungen abzulösen und sie in katholische Resonanzen zu übersetzen. Der gemeinsame Nenner hier wie dort ist der Patrozentrismus, eine inzwischen sozialgeschichtlich und psychohistorisch überholte Figur, die das Judentum, das katholische Christentum und die Wiener und Pariser Psychoanalyse gemeinsam hatten und die sie gemeinsam restaurieren möchten. Der junge Lacan stand bekanntlich der Action Française nahe, und der Mensch, dem er sich zeitlebens am nächsten fühlte, war sein Bruder, ein Trappistenmönch. Er kam aus einem rechtsradikalen Umfeld, in dem an einem Katholizismus ohne Gott, einem atheistisch-katholischen Law-and-Order-Syndrom gebastelt wurde: Gott ist tot, aber die Ordnungsstrukturen, die er geschaffen hat, die lassen wir uns nicht nehmen – aus ihnen wird eines Tages das vielzitierte Symbolische. Kurzum, der Hinweis auf das Ich als Krankheit des Westens führt uns nicht weiter. Man bleibt damit in dieser 2000-jährigen Klerikokratie gefangen, in der man den Menschen als Sünder oder Neurotiker a priori behandelt.
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