Mit Bedacht wurden für den vorliegenden Band nicht nur Interviews mit Berufsphilosophen geführt, sondern auch mit Menschen, deren Denken sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Philosophie speist. Wenn Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel lehrt, dann sind die hier abgedruckten Gespräche philosophische Zeitzeugnisse im besten Sinne des Wortes: Zeugnisse der denkenden Auseinandersetzung mit sich, dem Anderen und der Welt.
KAPITEL 1
Peter Sloterdijk
Philosophie als Zivilisationspädagogik
Jürgen Mittelstraß
Wer will bezweifeln, dass die Hasen vor der Tür auch ohne uns herumlaufen?
Alexander Dill
Philosophie oder die Liebe
zu einer nicht vorhandenen Frau
PETER SLOTERDIJK
Philosophie als Zivilisationspädagogik
Herr Sloterdijk, Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück?
Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube an den Erfolg oder seinen Anschein nur widerwillig oder, wenn Sie wollen, gar nicht. Die kulturelle Konstellation ist nicht mehr so, dass eine literarische oder eine philosophische Stimme, die unverkennbar hochkulturell gefärbt ist, in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft wirklich erfolgreich sein kann. Im heutigen Milieu hat das Auseinanderdriften der populärkulturellen und hochkulturellen Felder ein solches Maß an Entfremdung zwischen den Bereichen hervorgerufen, dass es Grenzgänger kaum noch geben kann. Ja, dass überhaupt noch eine Art Verkehr stattfindet, ist schon das Erstaunliche, und das liefert wohl die Begründung für das, was Sie meinen Erfolg nennen. Aber sehen wir die Dinge aus der Nähe an: Wenn man von einem philosophischen Buch knapp 40 000 Exemplare verkauft, wie es zum Beispiel bei meinem vorletzten Buch Zorn und Zeit der Fall war, ist es zwar nach den Kriterien des Metiers ein ziemlich gutes Ergebnis. Aber in den Kategorien der Massenkultur gesprochen ist so eine Zahl nur die Umschreibung für Nicht-Inexistenz. Das ist der Punkt.
Mein Freund Boris Groys hat mir mal eine Geschichte von einem seiner russischen Bekannten erzählt, der nach einem ersten Besuch in New York entsetzt und begeistert zurückkam. Was er dort erlebt hatte war der Kulturschock, der einem Gebildeten alten Schlages in einer echten Marktgesellschaft bevorsteht. In Moskau, so der Russe, wäre ein Intellektueller, der es sich in einer Konversation hätte anmerken lassen, dass er zum Beispiel den Namen von Albert Camus noch nicht gehört habe, für immer blamiert gewesen. Ganz anders in New York – wenn dort jemand Camus nicht kennt, dann heißt es einfach: Camus hat es nicht geschafft.
Diese Geschichte macht klar, worum es heute geht. Aus unserer Sphäre kann es heute absolut niemand mehr schaffen. Zumindest nicht in dem Sinne, wie es vor 50 Jahren noch einige Autoren vorgemacht hatten. Damals allerdings war die Auskristallisierung der Massenkultur noch nicht so weit vorangeschritten. Figuren wie der eben genannte Camus, aber mehr noch Jean-Paul Sartre, waren richtige Global Players. Kurzum, ich zögere, meine gelegentlichen grenzgängerischen Evasionen auf die andere Seite mit Erfolgen zu verwechseln.
Was bedeutet Ihnen als Schriftsteller das Etikett Philosophie? Wofür steht der Begriff Philosophie eigentlich?
Philosophie ist von außen gesehen eine relativ klar definierte Angelegenheit.
Es ist einfach das, was Philosophen tun. Und Philosophen sind die Leute, die in den philosophischen Fakultäten situiert sind. Das ist die Minimaldefinition von Philosophie, die sich aus der pragmatischen Sicht ergibt. Sie ist begreiflicherweise völlig selbstbezüglich und tautologisch. Daneben gibt es gottlob noch immer den berühmten „Weltbegriff“ der Philosophie, hinter dem übrigens – und das hat Immanuel Kant nicht erwähnt – ein noch anspruchsvollerer Überbegriff steht, der ethische Begriff der Philosophie. Nach dem ist Philosophie als Lebensform zu verstehen, gleichsam als eine Ordensregel. Der Philosoph ist – etwa bei den Kynikern – derjenige, der seinen zweiten Mantel verkauft und beschließt, in Zukunft ohne Kopfstütze zu schlafen. Ein Philosoph ist aus antiker Sicht jemand, der sein Leben nach den Regeln des Kosmos einrichtet. Er ist ein Mönch der Vernunft, und seine Weisheit zeigt sich darin, dass er sich selbst als eine lokale Funktion des Universums versteht. Dies ist gewiss nicht mehr sehr aktuell, an die Stelle dieses integralen Konzepts philosophischen Lebens ist ein moderner Weltbegriff getreten, bei dem es um so etwas wie eine universale Beratungskompetenz geht. Daher genießt die neuere Philosophie ein Interventionsprivileg hinsichtlich aller existenziellen und politischen Fragen. Während ansonsten Dilettantismus in Fragen der Erkenntnis zu Recht verboten ist, wird er bei den Philosophen geradezu gefordert, nämlich als Bereitschaft, in alles hineinzureden – was eigentlich auch heißt: in alle Dinge etwas hineinzulesen. Philosophie ist so gesehen eine hybride Lesepraxis. Wenn man Klassiker liest und solche Lektüren kreuzt, bleibt man Klassizist: Hierbei ist das Lektüreverhalten auf das Wechselspiel zwischen Primär- und Sekundärliteratur begrenzt. Oder aber man wird Modernist und liest interdisziplinär, dabei entstehen Hybridlektüren und gewagtere Kreuzungen. Das ist so ungefähr die Definition meiner Arbeit.
Wie würden Sie Ihr Werk in der philosophischen Landschaft verorten und wie stehen Sie zur akademischen Philosophie?
Ich will mich fürs Erste nicht so sehr in einer Landschaft, sondern zuerst in einer Zeitlinie verorten; landschaftliche Bezüge kommen erst später dazu. Wenn ich die Frage beantworten soll, wo ich herkomme, dann würde ich zuerst auf den deutschen Spätidealismus hinweisen, auf diese ganze Geschichte, die Karl Löwith in seinem Klassiker Von Hegel zu Nietzsche erzählt hat. Das war meine erste Prägung, mein Familiensystem, ich habe diese ganze Literatur quasi mit der Muttermilch aufgesogen. Das liegt zum Teil daran, dass an unserem Münchner Gymnasium ein Mathematiker unterrichtet hat, der zugleich Philosoph war und der mit uns Schülern in einer Arbeitsgruppe die Kritik der reinen Vernunft gelesen hat – damals war ich fünfzehn, sechzehn. Der stärkste äußere Impuls kam damals aber von der theologischen Seite her, von einem protestantischen Religionslehrer, der nicht über den lieben Jesus redete, sondern über Nietzsche, Kierkegaard und Jaspers. Die These, dass Gott tot sei, war ja im Verhältnis zu der, dass er lebe, wirklich viel interessanter, und ein Geistlicher, der etwas auf sich hielt, diskutierte mit den Jungen damals lieber über das Testament des toten Gottes als über das Alte und das Neue. Ohnehin gab es nach dem Krieg für positive Glaubensbekenntnisse wenig Anhaltspunkte.
Was die landschaftliche Zuordnung angeht, wäre bei mir der Zug nach Frankreich zu erwähnen. Wobei übrigens der eben erwähnte Löwith der einzige Vertreter der deutschen Philosophie war, der begriffen hatte, dass Paul Valéry ein Philosoph eigenen Rechts war. Bei ihm standen der Philosoph und der Schriftsteller in völliger Gleichberechtigung nebeneinander, der eine dementierte den anderen nicht. Diese Zweisprachigkeit aus Literatur und Philosophie war für mich von früh an eine Selbstverständlichkeit. Dennoch, seit ich publiziere, stehe ich ständig vor dieser für mich völlig sinnlosen Frage, wie ich mich gegenüber der akademischen Philosophie verhalte. Das scheint mir vor allem deswegen absurd, weil ja der Typus, dem ich mich zurechne, gerade in Deutschland sehr gut etabliert war. Wir hatten im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer, wir hatten Friedrich Nietzsche und Karl Marx, und seit die Übersetzungen aus dem Dänischen vorlagen, auch Sören Kierkegaard. Das waren alles keine Professoren, sondern Autoren, die den Weltbegriff der Philosophie anreicherten. Wir haben dann im 20. Jahrhundert auf französischer Seite mit Valéry, Camus, Sartre, Foucault und so weiter eine Reihe von Philosophen erlebt, die allesamt zugleich eminente Schriftsteller gewesen sind. Das ist alles Autorenphilosophie, die dem Weltbegriff von Philosophie neue Aspekte hinzufügte. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Frage nach meinem Verhältnis zur akademischen Philosophie überhaupt nicht, weil die Frage ja voraussetzt, dass der literaturnahe Typus delegitimiert sei und wir das Monopol des Professoralen akzeptieren sollten. Wieso eigentlich?
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