Nach acht Stunden war die Schule beendet. Tess und ich beschlossen, einen Snack zu uns zu nehmen. Die Auswahl des Lokals fiel ohne Einwände auf Mc Donald`s. Kalorien zählten wir heute allerdings nicht!
Zufrieden gingen wir über den Kudamm, der bekanntesten Einkaufsmeile Berlins, mit vielen kleinen Boutiquen und süßen Geschäften, die mit viel Liebe und Mühe betrieben wurden. Namhafte Kaufhäuser, edle Klamottenläden, aber auch einfachere Geschäfte luden zum Bummeln ein. Am bekanntesten war das KaDeWe, das Kaufhaus des Westens. Jeder Berliner und auch fast jeder Nichtberliner kannte es. Das Haus ähnelte der Größe nach eher einer Fabrik. So wurde es als eines der größten Kaufhäuser Europas beschrieben. Angefangen von Kleidung der bekanntesten Firmen und Designer über Schmuck im oberen Preissegment bis hin zu Köstlichkeiten aus aller Welt führte es so ziemlich alles. Dort zog es uns hin. Nach ein paar Minuten Wühlen zog ich eine Röhrenjeans aus dem Regal und probierte sie gleich an.
„Du schau mal, Tess, sitzt die gut?“ Ich drehte mich hin und her und betrachtete mich dabei im Spiegel.
„Du hast echt einen sexy Po in dieser Hose!“, betonte sie, bevor sie ausholte und mit der flachen Hand draufklatschte. „Aua! Mensch, lass das!“, stöhnte ich und rieb mit der Hand auf der leicht brennenden Stelle. „Ach, sei nicht so eine Mimose, du siehst klasse aus!“, bestätigte sie nochmal.
Ich war mit meiner um 60 Prozent reduzierten Ausbeute zufrieden. Mir war wichtig, nicht durch knallige Farben oder wirre Muster aufzufallen! Mein Stil war eher sportlich leger, bei entsprechendem Anlass auch mal elegant, aber immer möglichst schlicht. Darauf legte ich eine Menge Wert, denn schließlich kam ich aus einem mittelständischen Haushalt, wo beide Eltern arbeiteten. Wir waren nicht reich, kamen aber gut über die Runden. Meine Mama arbeitete in der diagnostischen Abteilung des Stadtteilklinikums Westend und mein Vater war Sachbearbeiter bei einer Krankenkasse.
Tess tickte völlig anders als ich, total entgegengesetzt! Sie liebte knallige Farben und extreme Muster. Es passte zu ihr und es wäre befremdlich, sie in schlichter Kleidung zu sehen. Vielleicht orientierte sie sich diesbezüglich an ihrer Mutter. Die Eltern führten ein gut gehendes Beratungsunternehmen und waren finanziell bestens ausgestattet. Dies bedeutete für Tess auch ein entsprechend hohes Budget für ihren Klamottenkauf. Es fiel Tess nicht schwer, mehrere Hundert Euro auf einmal auszugeben. Mich störte das überhaupt nicht, denn Tess und ihre Eltern sind trotz ihres Erfolges liebenswerte Personen geblieben und hielten sich nie für etwas Besseres.
Mittlerweile war es spät geworden. Die ersten Geschäfte schlossen die Türen und ließen die schweren Metallrollläden runter. Das Zeichen für uns, den Heimweg anzutreten.
Als wir uns am nächsten Morgen zur allgemeinen Gesprächsrunde trafen, meinte Alicia: „Wie sieht es denn heute mit Weggehen aus? Hätte Bock auf eine Bar oder einen Club.“
„Ich klinke mich jetzt schon aus“, sagte ich. „Ich bin völlig im Arsch! Vielleicht gehe ich morgen mit.“
„Ah super, morgen wäre ich auch dabei“, schloss sich Tess an, die man kaum verstand, da sie an einem Schokoriegel kaute. „Na, dann treffen wir uns eben morgen im Club“, entgegnete Alicia enttäuscht darüber, dass nicht heute schon etwas ging. Mit einigen Mitschülern, die ebenfalls 18 Jahre alt waren, verabredeten wir uns für Samstagabend gegen Mitternacht im Fritz-Club, der nach dem gleichnamigen Radiosender hieß. Für uns war Mitternacht die passende Zeit, weil ab da die Stimmung richtig gut abging. Was den Club empfehlenswert machte, waren die gut gemischte Musik und das ansprechende Interieur. Es wurden oft unbekannte Gruppen gespielt, die ihren großen Durchbruch erst noch vor sich hatten. Außerdem besuchten viele Gleichgesinnte und einigermaßen intelligente Leute diesen Club, was die Unterhaltung mit fremden Personen zumindest möglich machte.
Den Freitagabend verbrachten Tess und ich gemeinsam bei mir zu Hause. Wir hatten nichts weiter zu tun, außer zu plaudern, fernzusehen und zu faulenzen. Zwischendurch klingelte das Telefon. „Hallo Papa.“ „Hallo Liebes, was machst du so? Steht die Wohnung noch?“, fragte er mit seiner charmanten Art.
„Es geht mir prima, danke! Und – ja! – sie steht noch. Wie geht es Mama? Vermisst sie mich schon?“ „Na, machst du Scherze? Du kennst doch deine Mutter, sie ist froh, dass sie hier ihre Ruhe hat!“ Auf die Antwort hin mussten wir beide lachen. „Wo steckt ihr denn gerade?“
„Wir sind auf Bintan vor der Ostküste Sumatras, eine Insel ungefähr 45 Minuten von Singapur entfernt. Ein Traum, Juno, ein Traum!“
„Oh, Papa, hör auf, jetzt bin ich doch ein bisschen neidisch. Ist das Wasser wirklich so azur-blau, wie auf den vielen Werbebildern?“ Ich hörte, wie er lachte. „Dieses Blau ist einfach unbeschreiblich! Mama und ich gehen gleich an den Strand.“ Nach ein wenig Plauderei beendeten wir das Gespräch. Tess und ich spielten noch einige Runden Schiffe versenken, bis wir schließlich zu Bett gingen.
Am Samstagabend gegen 21.30 Uhr wurde es Zeit, sich für den Club hübsch zu machen. Die Handgriffe für das Make-up saßen. Heute trug Tess eine enge rote Röhrenjeans und kombinierte ein bunt geblümtes, eng anliegendes Oberteil dazu. Es gab nur wenige Jungs, die ihrem Anblick widerstehen konnten. Tess war es gewohnt, von mehreren Verehrern an einem Abend angesprochen zu werden. Manche waren ziemlich penetrant, aber die ließ Tess ohnehin gleich wieder abblitzen. Einfache Gemüter waren auch nichts für sie. Tess war immer auf der Suche nach dem Besonderen. Ich hatte mein braunes, schulterlanges Haar zu großzügig fallenden Locken frisiert und trug eine enge blaue Jeans. Dazu zog ich ein schwarzes Oberteil an, das einer Korsage ähnelte. „So, Süße, ich denke, das Werk ist vollbracht. Ich bin zufrieden und wie sieht es mit dir aus?“ Zustimmend nickte ich. „Ja, das passt! Von mir aus können wir los.“ Die Party war schon in Gange, als wir ankamen. Einige unserer Mitschüler trieben sich auf der Tanzfläche herum. Tessy stürzte sich sofort in das Getümmel, um ihr Tanzbein zu schwingen. Ich zog es dagegen vor, an der Theke mit ein paar Leuten zu plaudern. Nebenbei trank ich ein Blut-Orange Alko-Pop. Zu fortgeschrittener Stunde war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Die Musik schallte im Ohr und die vielen bunten Laser blitzten wirr vor meinen Augen. Mittlerweile tanzte ich ausgelassen mit meinen Freunden. Um 4 Uhr waren nur noch wenige da, die vom Tanzen nicht genug bekommen konnten. Als der DJ seinen Rausschmeißer einlegte und darum bat, die Tanzfläche zu räumen, beschlossen wir, den Heimweg anzutreten.
Zwei nette Jungs namens Paul und Finn, die wir im Club kennen gelernt hatten, begleiteten uns zur U-Bahn. Die zwei im Alter von neunzehn und zwanzig waren charmant und aufmerksam. Paul war der Ältere von beiden, Tess war völlig begeistert von ihm! „Wie, du bist naturblond? Ich dachte, du bist gefärbt!“, neckte er meine Freundin, die sofort darauf ansprang. Sie kniff Paul in die Seite. „Du bist ganz schön frech, da stehe ich gar nicht drauf!“ Er guckte irritiert. Tess ließ ihn noch ein paar Sekunden zappeln, grinste breit und streckte ihm dann die Zunge aus.
Am Umsteigebahnhof angekommen, tauschten Tess und Paul Telefonnummern aus. In dem Moment fuhr unser Zug ein. Wir stiegen ein und suchten uns einen Platz.
Nach wenigen Stationen trennten sich unsere Wege. „Mach's gut, meine Süße. Ich werde heute wohl noch mit Paul telefonieren.“
„Viel Spaß und schlaf gut. Wir können ja morgen sprechen.“
Als ich am nächsten Tag gegen Mittag aufstand, hatte ich von Tess noch nichts gehört. Wahrscheinlich hatte sie lange mit Paul telefoniert und lag noch im Tiefschlaf. Ich raffte mich auf, schlüpfte in meinen Jogginganzug und lief meine gewohnte Strecke durch den Ruhwaldpark. Zwischendurch machte ich immer wieder ein paar Dehnübungen. Inzwischen war ich wieder zu Hause und der Nachmittag ging dahin. Seltsam, dachte ich, als ich nach einiger Zeit bemerkte, dass es draußen langsam dunkel wurde. Tess müsste längst ausgeschlafen haben. Kaum hatte ich diesen Satz fertig gedacht, bimmelte mein Handy.
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