- Junos Sicht –
Berlin: Beginn einer unglaublichen Überraschung
Aufgeregt drückte ich die Taste der gespeicherten Nummer meiner besten Freundin Tess auf dem Handy. Mein Puls raste, meine Hände zitterten und mein Magen rebellierte. Wie so oft, wenn ich Vorfreude oder Aufregung verspürte. „Hallo Juno, was gibt´s?“ „Tess, halt dich fest! Du wirst es nicht glauben. Ich soll die Gewinnerin sein! Ich! Ist doch nicht zu fassen, oder?“ Stille am anderen Ende. Tess wusste offenbar nicht gleich, wovon ich spreche. Obwohl sie es war, die mich ermutigt hatte, an dem Preisausschreiben teilzunehmen. „Stell dir vor, heute lag ein Brief von F.I.L. Records im Briefkasten. Da steht es schwarz auf weiß. Soll ich vorlesen?“
„Ja, unbedingt!“ stimmte sie zu.
F.I.L. Records, Berlin
Stralauer Allee 1
10245 Berlin
Liebe Juno,
wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass der Hauptgewinn unseres großen Preisausschreibens auf Sie gefallen ist.
Sie sind die glückliche Gewinnerin einer Reise nach London.
Herzlichen Glückwunsch!
Sie residieren von Freitag, dem 21. Juni bis Sonntag, dem 23. Juni im 5-Sterne-Hotel HeaveNly, Luxus & Spa Resort. Genießen Sie dort alle Annehmlichkeiten des Hauses. Außerdem besuchen Sie am Samstagabend das Konzert der Band Luminous in der o2 World. Wir haben für Sie exklusive Bühnenplätze reserviert und Sie dürfen eine Begleitperson Ihrer Wahl mitnehmen.
Wir wünschen Ihnen ein unvergessliches Wochenende in London!
Bitte füllen Sie den beigefügten Anhang umgehend aus und senden ihn per E-Mail an: hauptgewinn@fil-records.com zurück.
Mit freundlichen Grüßen,
Craig Baker CEO – F.I.L. Records
„Und, Tess, was sagst du jetzt?“ „Das ist ja nicht zu glauben!“, schrie sie in den Hörer, so laut, dass mein Ohr fast taub wurde. „Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich sofort vorbeikommen. Nicht dass ich noch mehr von diesem Abenteuer verpasse! Schließlich sieht es sonst ziemlich mau mit Abenteuern bei dir aus“, setzte sie kichernd hinzu. „Haha, sehr witzig! Bis gleich.“
Nach dem Telefonat blieb ich am Küchentisch sitzen. Ich schaute aus den bodentiefen Fenstern der Wohnküche und hörte gedankenverloren Musik meiner Lieblingsband Luminous. So ein Glück! Jetzt durfte ich sie zum Auftakt der neuen Tournee live in London spielen sehen. Der bloße Gedanke daran verursachte mir Herzrasen. Jedes Lied der neuen CD konnte ich fehlerfrei mitsingen. Allerdings nur, wenn ich alleine war, denn mein eigener Gesang war grauenhaft! Die ruhige Stimme des Frontsängers Charly William erklang zu einem langsamen Stück, das von Piano und Trommeln begleitet wurde. Plötzlich ertönte unsere schrille Klingel und riss mich unsanft aus meinem Tagtraum. Schnell sprang ich auf und drückte den Summer.
Mit ihren langen Beinen nahm Tess immer zwei Stufen auf einmal und war im Nu oben im dritten Stockwerk angekommen. Endlich sah ich ihr breites Lächeln. Ihre zerzausten blonden Haare verdeckten zum Teil ihr bildhübsches Gesicht. „Hallo, meine Liebe!“, begrüßte ich sie. Wir drückten uns und ungeduldig schob sie mich in die Wohnung hinein. Ich hatte unsere Wohnung für mich allein, meine Eltern waren auf Weltreise gegangen – ein Traum, den sie sich seit Jahren erfüllen wollten. Jetzt hatten sie Zeit, Geld und das nötige Vertrauen in mich. Das einzige Versprechen, das ich ihnen gegenüber machen musste, war, dass ich gut durch die anstehenden Klausuren fürs Abi kommen würde. Ich hätte alles versprochen, um sturmfrei zu haben!
Aufgeregt wippte meine Freundin auf ihrem Stuhl hin und her. „So, jetzt gib mir endlich den Brief zu lesen, ich platze sonst vor Neugier!“ Nervös reichte ich ihn ihr rüber. Sie las ihn, einmal, zweimal und sogar ein drittes Mal. Dann schüttelte sie ihren Kopf. „Du hast echt Schwein! So ein unverschämtes Glück kannst auch nur du haben!“, meinte sie, bevor ihr strahlendes Lächeln einsetzte. „Weißt du schon, wen du mitnehmen wirst?“ Mir war klar, dass wir uns ab jetzt gemeinsam freuen konnten! Ich hatte es ihr nur noch nicht gesagt. Ich tat so, als müsste ich tatsächlich überlegen.
„Ich dachte an Luisa“, zog ich Tess mit dieser furchtbaren Streberin auf. „Haha, du bist wirklich witzig!“, bekam ich mit verdrehten Augen zu hören.
„Natürlich kommst du mit. Wer denn sonst? Schließlich hast du mich überredet, dran teilzunehmen“, und zeigte mit dem Finger auf den Briefbogen. Tess und ich waren unzertrennlich. Wir kannten uns bereits seit der Grundschule und gingen gemeinsam durch dick und dünn. Sie wusste genau, wie ich tickte, und ich kannte sie umgekehrt genauso gut. Sie ging zu ihrer Tasche, um ihren Kalender herauszuholen. Mit dem Finger streifte sie über die einzelnen Tage und stoppte an einem Freitag im Juni, am einundzwanzigsten. „Guck mal, da geht es los!“ Sie klatschte meine Hand ab. Das ist noch eine Woche, mal schauen, wie wir sie sinnvoll rumbekommen“, fügte ich hinzu. Als Erstes mussten wir die Fragen ausfüllen und umgehend an F.I.L. Records mailen, bevor wir wieder etwas hören würden. Bevor wir uns das Schriftstück zu Gemüte führten, kochte ich uns noch einen Milchkaffee. Tess trank ihn pur, ich mit zwei gehäuften Esslöffeln Zucker. Stück für Stück arbeiteten wir uns durch die rund zwölf Fragen und beantworteten Sie gewissenhaft. Nebenher ertönte zum wiederholten Mal gedämpft meine CD. Tess stand auf den Gitarristen Gary, ich eher auf den Leadsänger und Frontmann Charly. Wir beantworteten noch die letzte Frage, bevor wir das Schriftstück einscannten und abschickten. Jetzt hieß es einfach nur Geduld haben. Übermüdet fielen wir beide in mein Bett. Es war breit genug, dass darin gemütlich zwei Personen liegen konnten.
Die Nacht war kurz, mein Handy weckte uns pünktlich um 6.30 Uhr. Der Unterricht sollte heute um 8 Uhr mit einer Doppelstunde Englisch beginnen. Englisch – eins meiner Lieblings- und Leistungsfächer. Aus diesem Grund kam es nicht in Frage, erst nach der großen Pause zum Unterricht zu erscheinen. „Hallo aufwachen, wir müssen zur Schule“, flüsterte ich meiner Freundin ins Ohr und strich ihr sanft über ihre Stirn. Meine Versuche, sie mit Worten zu wecken, schlugen fehl. Ich musste, so leid es mir tat, zu anderen Maßnahmen greifen. Ich zog an ihren Ohren. Erst ganz sanft, dann aber kräftiger. „Hey, was ist denn los? Geht das nicht ein wenig liebevoller?“, knurrte sie und schaute recht sauertöpfisch. Wortlos schüttelte ich den Kopf und lächelte. „Du, Tess, wie auch immer wir die restlichen Tage rumkriegen. Ich finde, wir sollten das mit dem Gewinn für uns behalten.“ „Aha, und wieso?“ „Man weiß ja nie! Vielleicht ist der gesamte Gewinn bloß ein Reinfall und die Blöße würde ich mir nicht geben wollen.“
„Okay, verstehe. Wenn es dir so lieber ist, du weißt, ich kann schweigen wie ein Grab!“ Uns war klar, dass die restlichen Tage bis zum Antritt der Reise die Hölle werden würden. Mit niemanden darüber zu reden, war schon eine sehr große Herausforderung für zwei Quasseltanten wie uns. Wir schwangen uns auf die Räder und fuhren zur Schule. Genau genommen besuchten wir das Berggrün-Gymnasium in unserem Kiez. Im Grunde genommen war die restliche Zeit nur noch ein Absitzen. Die Klausuren waren alle geschrieben und die mündlichen Prüfungen absolviert. Am Abend gönnte ich mir ein heißes Bad. So heiß, dass der große Spiegel nach wenigen Minuten beschlagen war. Aus dem Schrank nahm ich eine wohlriechende Kugel, deren Zusätze aus Vanille-Aroma, Öl, Honig und Seife bestanden. Vorsichtig ließ ich sie ins Wasser gleiten. Im Hintergrund lief leise meine CD, die wie eine Droge auf mich wirkte. Mit jedem Mal Hören wurde sie mir vertrauter und half mir dabei, mit den Gedanken abzuschweifen …
Am nächsten Tag in der Schule traf ich Tess wieder. Wir begrüßten uns und mischten uns in eine Gruppe von Mädchen, mit denen wir auch in der Freizeit unterwegs waren. Wir redeten über Jungs, Sex, Partys und natürlich über Schuhe! Alicia erzählte, was ihr und ihrem Freund gestern Abend passiert war. „… Das könnt ihr euch nicht vorstellen, gerade als es anfing, spannend zu werden, platzte dieses verdammte Gummi!“ Entsetzen war in unseren Augen zu sehen. Ein aufgeregtes „Auweia!“ ging durch die Runde. Einige hielten sich die Hand vor den Mund. Alicia sah sich kurz um, bevor sie fortfuhr. „Wir hatten beide die totale Panik! Max meinte, ich müsse sofort ins Krankenhaus und die 'Pille danach' schlucken!“ Tess war geschockt und schaukelte mit ihrem Stuhl ständig vor und zurück. „Nee, wie jetzt, seid ihr wirklich ins Krankenhaus gefahren und habt die Story erzählt?“ An der Röte ihres Gesichtes konnte man ahnen, dass es Alicia langsam peinlich wurde. „Natürlich, was blieb uns denn anderes übrig? Meinst du, ich wollte jetzt schon Mutter werden?“ Tess begriff sofort. „Oh sorry, wollte dir nicht zu nahe treten.“ Wir verfolgten das Thema nicht weiter und verteilten uns auf unsere Plätze, da der Unterricht begann.
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