So schockierend diese grausige Tat auch war, so zeigten sich die Bewohner von Wexford doch gleichzeitig irgendwie erleichtert darüber, dass die Tote nicht aus ihrer Stadt stammte. Der Mord war zwar hier verübt worden, aber da das Mädchen aus London kam, lag der Verdacht nahe, dass ihr Mörder ebenfalls nicht aus der Gegend kam. Vielleicht war Wexford nur rein zufällig zum Schauplatz eines Ritualmordes geworden? Dass nun jedoch London mit der Tat in Verbindung gebracht wurde, machte die Sache für mich nicht wirklich besser - ganz im Gegenteil. Denn genau dorthin war ein Klassenausflug samt Übernachtung für die nächste Woche geplant gewesen. Nun waren alle Lehrer in Sorge und überlegten, den Ausflug zu verschieben oder sogar ausfallen zu lassen. Nicht, dass ich viele Freunde in meiner Klasse gehabt hätte und wild darauf gewesen wäre, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber ich war dankbar um jede Gelegenheit, die mir eine Chance bot, für wenigstens ein paar Stunden unserer tristen Graslandschaft zu entkommen. Und mal ehrlich, in einer Großstadt wie London verschwanden sicher täglich Mädchen. Dies war dort wohl keine Ausnahme und so auch kein unmittelbarer Grund, den Ausflug abzusagen.
Meine Klassenkameraden waren da glücklicherweise ganz meiner Meinung. Unser Klassensprecher und gleichzeitig auch Klassenclown Carson protestierte am lautesten: „Gerade jetzt sollten wir nach London fahren. Dort fallen wir viel weniger auf, als hier wie verängstigte Schafe auf den Mörder zu warten.“
Mrs. Kelly hatte vor wenigen Jahren ihr Lehramtsstudium beendet. Wir waren ihre erste eigene Klasse und demnach scheute sie sich vor jeglicher Gefahr und jeder Art von Diskussion, die außerhalb ihres Lehrplans stattfand. Auch jetzt fühlte sie sich sichtlich unwohl. Kopfschüttelnd schob sie ihre schwarze Brille auf ihrer Nase zurecht. „Ich kann das nicht alleine entscheiden. Darüber muss ich erst mit dem Direktor sprechen.“
Carson hatte kein Mitleid mit ihr: „Kommen Sie schon, Mrs. Kelly. Wenn Sie dafür sind, hat der Direktor auch nichts dagegen. Sie sind doch unsere Klassenlehrerin, Sie müssen sich für uns einsetzen!“
Mrs. Kelly dachte verzweifelt über seine Worte nach und wog das Für und Wider ab, so wie sie es wahrscheinlich in ihrem Pädagogikkurs an der Universität gelernt hatte. „Ich werde darüber nachdenken“, antwortete sie schließlich vage.
Meine Tischnachbarin Dairine stupste mich leicht mit dem Ellbogen an. „Was hältst du von einer Wette? Gibt die Kelly nach oder hat sie zu viel Schiss?“
Ich legte den Kopf leicht schief und betrachtete Mrs. Kellys ängstliches und verzweifeltes Gesicht. „Sie ist ein Angsthase.“
„Du glaubst also, aus London wird nichts?“
„Du weißt doch, ich bin Pessimistin.“
„Ich nicht. Ich sage, sie hat größere Angst vor Carson und der Meute als vor einem Mörder in London“, grinste Dairine mit einem siegessicheren Lächeln.
„Was ist der Wetteinsatz?“
„Ein Cocktail in London? “
„Wenn ich recht habe, fahren wir gar nicht nach London.”
„Na dann brauchst du doch auch keinen Cocktail zu zahlen“, grinste mir Dairine frech entgegen. Sie war meine einzige Freundin. Wenn man das, was uns beide verband, überhaupt als Freundschaft und nicht eher als Zweckgemeinschaft bezeichnen konnte. Ich hatte mich noch nie außerhalb der Schule mit ihr getroffen. Ich wusste nicht einmal, welche Hobbys sie hatte und ehrlich gesagt, hatte es mich auch nie interessiert. Meine Freizeit hatte ich schon immer mit Lucas und Eliza, sofern sie uns mit ihrer Anwesenheit beehrte, verbracht. Dairine erging es da ähnlich. Sie war vor drei Jahren mit ihrer Familie aus Colorado hierhergezogen. Sie sprach nicht nur anders als wir, sondern sah auch anders aus. Während unsere Schuluniformen alle akkurat gebügelt und gefaltet waren, peppte Dairine sie mit Buttons von mir unbekannten Rockbands und neonfarbenen Bändern auf. In ihren Haaren trug sie verschiedenfarbige Kunsthaarsträhnen. Man erkannte sie schon von Weitem wie ein leuchtender Stern. Viele glaubten deshalb, dass sie sich für etwas Besseres hielt oder verstanden sie schlicht nicht. Auch ich konnte Dairines Gedankengänge oft nicht ganz nachvollziehen, aber es war wohl normal, dass sich zwei Außenseiter zusammenschlossen. Wie hieß es so schön? Zusammen war man weniger allein - zumindest schien es so.
Am Abend machten sich meine Eltern fertig, um wie jedes Jahr an diesem Tag auszugehen. Es war der fünfundzwanzigste Oktober: Ihr Jahrestag und damit der einzige feierliche Anlass, an dem sie ohne mich und Eliza das Haus verließen. Wegen ihrer Sorgen um meine Schwester hatten sie ihn dieses Jahr eigentlich ausfallen lassen wollen. Eliza war nun schon seit einem halben Jahr verschwunden.
„Ich werde mich nicht amüsieren können, solange ich nicht weiß, wie es Eliza geht“, hatte meine Mutter traurig gesagt.
„Sie wird nicht ausgerechnet heute wiederkommen. Und selbst wenn, wird sie dann auch noch da sein, wenn ihr von eurem Rendezvous zurückkommt“, hatte ich erwidert, in der Hoffnung, dass sie mir glaubte.
Es war stunden- und tagelange Schwerstarbeit gewesen, sie zu überzeugen. Doch sobald ich meine Mutter überredet hatte, war Dad ein Kinderspiel gewesen. Er richtete sich grundsätzlich nach meiner Mum.
Sie standen in ihrer nobelsten Kleidung vor mir und taten so, als würden sie für einen ganzen Monaten verreisen und nicht nur für zwei Stunden in die Stadt fahren.
„Wir schließen gleich die Haustür ab, aber denke bitte daran, sie noch einmal zu kontrollieren, bevor du ins Bett gehst.“
Ich nickte brav, um die Belehrungen so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
„Kommt Lucas rüber?“
Wieder ein Nicken.
„Trinkt keinen Alkohol!“
Ich verdrehte die Augen. Lucas und Alkohol, guter Witz! „Nein, machen wir nicht.“
„Und wenn Eliza sich meldet, rufst du uns sofort an.“
„Natürlich!“ Sie erwarteten nach wie vor, dass meine Schwester jede Sekunde anrufen könnte. Sollte sie tatsächlich anrufen, würde ich ihr sagen, dass sie das letzte, verantwortungsloseste Miststück war und sofort wieder auflegen. Es würde tatsächlich zu ihr passen, ausgerechnet heute anzurufen und unseren Eltern damit den Abend zu versauen. Rücksichtslos und egoistisch waren Eigenschaften, die meine Schwester gut beschrieben. Wobei, für meine Eltern wäre es wohl ein Grund zur Freude. Als würden Weihnachten und Geburtstag zusammenfallen.
„Wir bleiben nicht lange weg, Schatz. Wenn du Angst bekommst, kannst du uns natürlich auch jederzeit anrufen.“
Ich stöhnte genervt auf. Ich war weder fünf noch alleine. Von mir aus hätten sie die ganze Nacht wegbleiben können, denn ich hatte meine eigenen Pläne. Pläne mit Lucas, von denen er genauso wenig wusste wie meine Eltern.
„Mum, ich bin schon ein großes Mädchen.“
„Für uns wirst du immer unsere kleine Prinzessin bleiben“, säuselte Dad, streichelte mir übers Haar und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Mum tat es ihm nach. Seit Eliza weg war, waren sie noch besorgter und rührseliger als ohnehin schon.
„Geht jetzt bitte, bevor es noch peinlicher wird.“
Sie lachten beide und verließen endlich, endlich, ENDLICH das Haus. Ich wartete bis ich ihr Auto auf die Straße abbiegen sah, erst dann rief ich Lucas an.
„Sie sind weg, kommst du rüber?“
„Ich bin noch nicht mit den Mathehausaufgaben fertig.“
Mein kleiner Streber! „Die kannst du auch noch morgen oder Sonntag machen.“
„Ich mache sie aber lieber erst zu Ende. Hast du deine Hausaufgaben denn schon alle gemacht?“
„Nein ...“ Selbst wenn ich vorgehabt hätte, sie zu machen, war ich dafür im Moment viel zu nervös.
„Soll ich dir helfen?“
Würde er wohl schneller zu mir kommen, wenn ich ja sagte? „Das wäre lieb.“
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