1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Nach etwa einer Stunde darf ich von der Seite her zum Stuhl von Amma vorrücken und meine Arme sogar auf die Stuhllehnen stützen. Ich bin jetzt weniger als 30 Zentimeter von Amma entfernt, bin ihr somit sehr, sehr nahe. Anscheinend ist dies von Amma so gewünscht und beabsichtigt. Sie lächelt mir kurz zu, während sie mit ihren Umarmungen fortfährt. Ich bringe einer deutschen Helferin mein Anliegen vor: nämlich, dass ich Knieprobleme habe. Die jahrelangen Dauerschmerzen seien zwar weg, aber ich könne leider überhaupt keinen Sport und keine Outdoor-Aktivität mehr machen, was mir unendlich schwerfällt und mein Leben sehr einschränkt. Denn ich bin so gerne in der Natur, möchte wieder wandern und vielleicht sogar kleinere Berge besteigen können. Seit 1994, also seit mehr als zehn Jahren, ist dies jedoch gänzlich unmöglich. Eine kleine Verkantung, ein falscher Tritt und schon werden wieder Knieschmerzen ausgelöst.
Die Frau übersetzt meinen Wunsch einem neben Amma stehenden etwa 50-jährigen Swami, 9einem Mitglied ihres Ashrams in Indien, der seit fast 20 Jahren mit ihr unterwegs auf Reisen ist. Im Gegensatz zu Amma versteht er gut Englisch. In den sehr kurzen Pausen, während eine Person weggezogen wird und eine andere auf Knien direkt vor Amma hinrutscht, teilt der Inder von der Seite her Amma mein Anliegen mit: meinen Wunsch, wieder freier gehen zu können. Ich erhoffe mir, dass Amma mir irgendwie helfen und mir womöglich sogar die Ursachen für die Knieblockaden nennen kann. Wieder sieht mich Amma an, diesmal voll Mitgefühl. Dieser Blick geht mir tief ins Herz und ich beginne zu weinen, ich kann gar nicht anders. Ich weiß aber gar nicht, warum ich weinen muss. Womöglich liegt es daran, dass ich mich instinktiv von Amma durchschaut, gesehen, angenommen und verstanden fühle.
Seltsamerweise bekomme ich keine Antwort. Ich darf jedoch direkt neben Amma knien bleiben. Und nun sehe ich ihr Tun aus einer ganz anderen Perspektive. Denn wenn ich wie am Tag zuvor, wie hunderte anderer Menschen auch, von vorne in der Schlange zu Amma komme, bleiben höchstens 15 Sekunden Zeit. Dabei wurde ich von ihr an ihren Körper gedrückt, konnte sie deshalb gar nicht richtig sehen. Außerdem war ich zu aufgeregt. Und dann war es auch schon wieder vorbei. Jetzt aber ist Zeit, ich kann das ganze Geschehen in aller Ruhe beobachten und auf mich wirken lassen.
Und dieses Geschehen rührt mich im Innersten an. Immer wenn ein Paar zu Amma kommt, drückt sie zuerst jeden einzelnen und sagt zu ihm „my son“ oder „my daughter“. Danach drückt sie das Paar nochmals gemeinsam von links und rechts gleichzeitig an sich. So viele Paare weinen danach. Weil ich dies nun so hautnah mitbekomme, muss auch ich immer wieder weinen. Die Frauen und Männer spüren instinktiv, dass Amma ihre Partnerschaft soeben gesegnet hat. Danach haben viele offensichtlich tiefe Sehnsucht. Meist bekommen sie dann noch – als sehr einfaches und natürliches Zeichen der Ganzheit und Harmonie ihrer Partnerschaft – von Amma einen Apfel geschenkt, den ihr eine Helferin soeben über die Schulter gereicht hat. Eltern, die mit ihren kleinen Kindern kommen, übergeben diese für einen kurzen Moment Amma, die sie ans Herz drückt und sehr liebevoll auf die Stirn küsst. Allen „Besuchern“ gibt Amma nach der Umarmung ein Bonbon und ein angenehm duftendes Rosenblatt. Sie möchte mit diesen kleinen materiellen Dingen ihre Liebe und ihr Mitgefühl symbolisch ausdrücken und ein Andenken an die Begegnung hinterlassen.
Viele Menschen strahlen nach der Begegnung Freude, Erleichterung und Dankbarkeit aus und diese Stimmung überträgt sich immer mehr auf mich selbst. Am meisten berührt mich aber ein über siebzig Jahre alter großer Mann. Obwohl auch er sich wie alle dem Stuhl von Amma auf Knien nähern muss, ist er immer noch einen Kopf größer als sie. Sie zieht ihn zu sich heran. Und er lässt sich von dieser deutlich jüngeren und viel kleineren Frau umarmen wie ein kleines Kind. Danach beginnt dieser große alte Mann hemmungslos zu weinen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Womöglich hat er sein ganzes Leben lang immer nur stark sein und für seine eigene Familie sorgen müssen und durfte als Mann nie solche Gefühle zeigen. Vielleicht hat man privat und im Beruf von ihm erwartet, dass er immer nur den Starken gibt. Das kann ich nur vermuten. Ich kann jedoch unmittelbar beobachten, dass er sich in diesem Augenblick total fallen lässt. Dies löst seinen Tränenstrom aus und wäscht offensichtlich all die Verspannungen, seine innere Not und seine unterdrückten Gefühle heraus.
Dieser Mann könnte mein Vater sein, den ich bis heute nie habe weinen sehen. Ich bekomme einen Stich ins Herz und es berührt in diesem Moment meine Beziehung zu meinem Vater. Denn dieser mir unbekannte Mann erinnert mich sehr an meinen Vater, der auch nie weinen durfte oder konnte. So oft hätte ich mir gewünscht, ihn einmal weinen zu sehen. In diesem Augenblick löst sich in meiner Tiefe eine Spannung. Jetzt weine ich schon wieder. Diesmal weine ich mit dem Mann direkt neben mir, der noch in Ammas Armen liegt, einfach mit und niemand stört sich daran. Alle, die um Amma herumstehen, empfinden dies als völlig normal. Es weinen ja so viele, sobald Amma sie umarmt hat – vor Ergriffenheit, weil ihnen dadurch das Herz aufgeht und weil sie sich endlich von jemandem tief innen verstanden fühlen. Das kann wirklich die Tränen lösen. Dennoch werde ich langsam ungeduldig. Ich möchte ja Hilfe für meine Knie bekommen, vor allem für das linke. Ich möchte konkrete Antworten hören. Es scheint mir so, als ob Amma mich in dem ganzen Umarmungstrubel vergessen hätte, obwohl ich ihr doch so nahe bin. Statt sich um mich zu kümmern, umarmt sie unentwegt andere Menschen. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich werde sogar eifersüchtig auf all die anderen Menschen.
Nach etwa einer halben Stunde wendet sich mir Amma plötzlich völlig unvermittelt während eines „Personenwechsels“ zu, schaut mir nochmals tief direkt in die Augen und gibt mir eine kleine Tüte mit von ihr gesegneter Asche. Dann wird mir von dem Swami freundlich aber bestimmt erklärt, dass ich mich nun von Amma entfernen solle, weil die Begegnung beendet sei und Amma sich um mein Problem gekümmert habe. Meine Energieblockaden in den Knien seien karmisch bedingt gewesen, also Blockaden aus früheren Leben. Diese seien jetzt aber aufgelöst worden. Die kommende Woche solle ich dreimal täglich etwas von der Asche mit etwas angefeuchteten Händen auf meine Knie streichen. Amma habe ihm versichert, dass ich nun wieder gehen könne und dass das Problem sich auch körperlich schnell lösen werde. Ich bin sehr erstaunt. Wie soll denn dies plötzlich geschehen, was in den vergangenen zehn Jahren unmöglich war? Amma hat doch gar nichts gemacht. Ich bin ein bisschen enttäuscht und zweifle daran, ob die Begegnung wirklich die ersehnte Heilung gebracht hat.
Von einer Helferin an der Bühne wird mir versichert, dass es eine absolute Gnade gewesen sei, dass ich so lange im unmittelbaren Energiefeld von Amma habe bleiben dürfen. Ich solle mir doch klar machen, dass es nicht um eine rationale, nüchterne Antwort oder um eine bloße Diagnose bezüglich meiner Knie ging, sondern vielmehr darum, dass sich in mir im starken Energiefeld von Amma psychische Blockade lösen konnten, die in Vorleben verursacht worden waren. Ich muss zugeben, dass ich ja immer wieder weinen musste und dass ich von Ammas Mitgefühl, das ich wohl instinktiv erfasst habe, sehr angerührt worden bin. Das wirkt nach. Ich bleibe noch bis zum Ende der Veranstaltung in der Halle, die die ganze Nacht hindurch bis zum Mittag des nächsten Tages von mantraartigen Gesängen und Weisen erfüllt wird. Mehrere Musikgruppen lösen sich ab. Die Besucher, die noch immer da sind, beklatschen Amma voll Dankbarkeit, als diese mittags schließlich mit ihren Begleitern abzieht. Sehr nachdenklich fahre ich nach Hause. Ich muss erst einmal alles verdauen. Die Begegnung mit Amma hat mich emotional sehr mitgenommen. Jetzt will ich nur noch schlafen – mitten am Nachmittag.
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