1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 In diesem Moment überkommt es mich heftig und ich muss an dem von mir neu definierten Kindergrab hemmungslos weinen – im Beisein dieses mir völlig unbekannten Ehepaars. Es ist eine sehr berührende Situation, ein magischer Augenblick, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint. In meinem Familiensystem kann jetzt durch mich gerade etwas ins Fließen kommen und geheilt werden, was über 80 Jahre lang blockiert war. Ich habe aber gar nicht das Gefühl, dass ich dabei der aktiv Handelnde bin. Vielmehr geschieht etwas durch mich, das mir in diesem Augenblick völlig logisch, längst überfällig und konsequent erscheint, das ich weder verhindern, noch beeinflussen, noch beschleunigen kann, selbst wenn ich es wollte. Es geschieht völlig von alleine, alles scheint eine eigene innere Logik zu haben.
Ich komme mir wie ein Werkzeug des Universums vor, das nun gerade gebraucht wird, damit etwas längst Überfälliges, Notwendiges, Tiefes und Heilendes endlich stattfinden kann: eine echte, ehrliche Trauer um zwei kleine Kinder, um zwei meiner Onkel. Und um eine nachträgliche würdevollere Bestattung. Mein Herz ist sperrangelweit offen wie selten zuvor und ich schließe diese Ahnen tief in mein Herz. Ab jetzt gehören sie für immer zu mir. Dies spüre ich in dieser Situation sehr tief und plötzlich weiß ich, dass ich selbst der am meisten Beschenkte dieses ganzen äußerst berührenden Geschehens bin. Ich empfinde es als große Gnade und als Ehre, diese „Trauerarbeit“ machen zu dürfen. Und ich fühle mich dabei geführt von höheren Kräften...
Von meiner Tante habe ich kurz vorher erfahren, dass meine Großmutter durch den Tod gleich zweier ihrer Söhne während des Krieges so geschockt war und so krank wurde, dass sie damals überhaupt nicht trauern konnte. Sie konnte nicht einmal an der Beerdigung teilnehmen. Als mein Großvater 1918 aus dem Krieg heim kam, zog er bald darauf mit meiner Großmutter weg aufs Land. Die beiden Kindergräber gerieten dann schnell in Vergessenheit. Nun aber, am Fest der Heiligen Drei Könige 2000, scheint es mir so, als ob gerade in diesem Augenblick etwas zum Abschluss und zur Ruhe kommen könne; und als ob sich in mir, in meinem linken Knie, eine Blockade lösen würde.
Das freundliche Ehepaar, das in gebührendem Abstand gewartet hat, kommt jetzt auf mich zu und beide versichern mir, dass sie die Kerzen so lange wieder anzünden und hüten würden, bis sie völlig heruntergebrannt seien. Voll Dankbarkeit überreiche ich ihnen eine mitgebrachte Flasche Wein und verabschiede mich danach von ihnen und von dem Grab meiner Onkel. Noch einmal verneige ich mich tief ergriffen und zugleich voll Dankbarkeit vor dem Grab mit den beiden großen Kerzen, die jetzt – an einem grauen Wintertag – in tiefem Frieden vor sich hinbrennen. Ich habe selten eine solch berührende und magische Situation erlebt, die mir so unter die Haut ging. Und ich weiß, dass heute etwas Grundsätzliches in meinem Familiensystem geheilt worden ist.
Zwei Wochen später habe ich für den dritten Onkel, der ebenfalls bald nach seiner Geburt 1921 durch den bereits erwähnten tragischen Feuerunfall ums Leben kam, eine weitere Messe in einer kleinen dörflichen Filialkirche bestellt, wo meine Großeltern nach ihrem Wegzug aus Nürnberg gewohnt hatten. Da nur etwa zwanzig Personen anwesend sind, kann ich am Ende des Gottesdienstes das Wort ergreifen und kurz über das Schicksal dieses Verwandten und auch der beiden Nürnberger Kinder berichten. Einige alte Kirchenbesucher können sich noch persönlich an meine Großeltern erinnern. Hier stelle ich eine entsprechend vorbereitete Kerze in der Kirche auf und lege eine kurze würdigende Fallbeschreibung aller drei Toten dazu. Die Mesnerin erzählt mir eine Woche später, dass mehr als zwanzig Leute bei ihr um eine Kopie dieses Zettels gebeten hätten und dass sie bereits viele Gespräche mit Kirchenbesuchern über das Schicksal meiner Verwandten geführt habe. Auch dieser Gottesdienst hat mich wieder sehr ergriffen.
Etwa eine Woche nach dieser zweiten Gedenkmesse geschieht etwas Seltsames, ja etwas Unglaubliches: Ich vergesse irgendwann, Quark zu kaufen und ihn auf mein schmerzendes linkes Knie zu legen. Es hat – zunächst eher unmerklich – aufgehört zu rumoren. Der Druck aus dem Knie ist weg. Ich kann auch ohne Quark wieder einschlafen. Zunächst fällt mir dies gar nicht auf. Nach etwa drei Wochen kann ich feststellen, ja ich muss es mir eingestehen, dass ich keine Knieschmerzen mehr habe. Unglaublich! Ich will dies zunächst gar nicht wahrhaben, zu sehr bin ich an den Dauerschmerz gewöhnt gewesen. Natürlich fühle ich mich im linken Knie noch immer sehr unsicher, eine leichte Verkanntung, ein falscher Tritt, ein kleines Stolpern und schon tut das Knie wieder weh. Aber der Schmerz geht auch in diesen Fällen nach etwa ein oder zwei Tagen jedes Mal wieder weg. Anscheinend muss ich erst einmal die Schmerzvorstellung aus meinen Gedanken, aus meinem Kopf, herausbekommen, der so an den Schmerz gewöhnt war, dass er sich ein Leben ohne Schmerzen gar nicht mehr vorstellen konnte. Fast vier Jahre Dauerschmerz, Tag und Nacht!
Deutung der Knieschmerzen – Rückblick
An dieser Stelle möchte ich festhalten und bekennen: Die Ahnenarbeit war in meinem Fall die Lösung der heftigen und aussichtslosen Knieprobleme. Was die besten Orthopäden, Sportmediziner und Operateure Münchens nicht vermochten, wurde danach auf den Friedhöfen und in den Kirchen Nürnbergs und in einem ostbayerischen Dorf gelöst. Im Nachhinein gesehen, erschien es mir genau so: Die ungelösten Familienangelegenheiten meines Herkunftssystems, die unbetrauerten toten Brüder meiner Mutter und die furchtbaren Umstände, unter denen sie damals gestorben und beerdigt worden waren, hatten mich jahrelang aus meinem linken Knie angeschrien.
Nun begann ich auch, die Philosophie von Luise Hay bezüglich des Schmerzes besser zu verstehen: Chronische Schmerzen stellen eine Energieblockade dar und sind oftmals Ausdruck einer Schuld, die deshalb nach Strafe verlangt. Die Schmerzen sind die Strafe. Dabei ist es unwichtig, auf welcher Ebene die Schuld vorliegt. In meinem Fall handelte es sich nicht um eine verdrängte persönliche Schuld, sondern um eine familiensystemische Schuld, die sich dann in mir als einem nachfolgenden Familienmitglied stellvertretend niedergeschlagen hatte. Die Schuld bestand darin, dass Verstorbene nicht genügend gewürdigt, ihr Schicksal verdrängt und die Personen vergessen worden waren.
Die Münchner Ärzte konnten mir deshalb mit ihrem rein schulmedizinischen Wissen nicht helfen, weil eine nur körperliche Ebene die falsche „Plattform“ für eine Heilung war. Die Ursachen lagen in meinem Herkunfts-Familiensystem, nicht im Knie selbst. Mein Knie war jedoch die ganze Zeit ein Indikator, ein Wegweiser dafür, auf einer ganz anderen Ebene als der rein körperlichen nach den wahren Ursachen zu suchen. Jetzt konnte ich es so deuten: Das ungelöste Ahnen-Familien-Problem hatte sich auf der Körperebene eines ihrer Nachfahren niedergeschlagen. Es hatte also die ganze Zeit eine Symptomverschiebung von familiensystemischen Problemen auf die Körperebene eines Familienmitglieds, genauer gesagt auf einen meiner Körperteile, gegeben. So habe ich es zumindest erlebt, so war es für mich.
Zudem bekam ich eine andere Vorstellung vom Schmerz. Ich deutete ihn im Nachhinein als Energieblockade. Und die ungewürdigten und vergessenen Toten in meiner Herkunftsfamilie stellten die Blockade dar. Als diese Ursache durch die heilenden Rituale beseitigt war, konnte der Druck und damit der Schmerz aus den Knien weichen.
Aber damit diese Lösung überhaupt möglich wurde, musste erst ich selbst meine innere Einstellung, ja mein ganzes bis dahin existierendes Weltbild, ändern. Dies war ein Jahre dauernder Prozess. Die Schmerzen zwangen mich dazu, woanders hinzuschauen und meine mechanistische, rein auf das Körperliche bezogene Weltanschauung zu verändern. Ich war eben über 40 Jahre lang ein „Kind“ unserer naturwissenschaftlich und rein technisch ausgerichteten westlichen Denkweise und Lebenseinstellung gewesen. Damit teilte ich die Weltsicht der großen Mehrheit unserer Gesellschaft.
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