Zudem entstand der katholische Jahresfestkreis auf der Grundlage eines Medizinrads. Um die christliche Heilsbotschaft jedes Jahr neu ins Gedächtnis der Gläubigen zu rufen und das ganze Jahr damit zu gestalten, wurden die wichtigsten historischen Heilsereignisse um die Person Jesu und um die Mutter Maria auf ein rundes System projiziert. Dafür eignete sich natürlich das zyklische Medizinrad hervorragend, das sich an je vier besonderen Sonnen- und Mondständen orientiert. So wird zum Beispiel der jedes Jahr erheblich variierende Termin für den Ostersonntag, das wichtigste christlichste Fest, nach einer „heidnischen“, vorchristlichen Methode berechnet:
Man nimmt zunächst die Tag- und Nachtgleiche, meist am 21. März, dem Frühlingsanfang. An diesem Tag fand bei den Kelten das Ostara-Frühlingsfest statt.
Als nächstes sucht man den ersten Vollmond nach dem Frühlingsbeginn.
Ostern wird dann am Sonntag nach diesem Mond gefeiert. Manchmal fällt Ostern sehr nahe mit dem ursprünglichen Ostara-Fest zusammen. Nicht zufällig wollte man die Auferstehung Christi mit dem Frühlingsfest an der Tag- und Nachtgleiche vieler schamanischer Kulturen in Verbindung bringen. Denn in beiden Fällen geht es um Auferstehung, um neues Leben und um einen Neubeginn.
Jahreszeiten und Lebensphasen
Doch zurück zum Medizinrad selbst. Wie ist es entstanden und warum lebten viele traditionelle Völker nach solchen Lebensrädern? Dazu meint der österreichische Visionssuche- und Ritualleiter Franz Redl: „Medizinräder der ganzen Welt sind innere und äußere Landkarten des Lebens und des Menschen. Diese Landkarten sind Orientierungen in Bezug auf die äußere Welt, die Natur, aber auch auf die innere Entwicklung, die Individuation des Menschen.“ 13Ein Medizinrad dient also einer vielfältigen Grundorientierung. Diese zeigt sich auch in einem Kinderreim, der jedoch nur auf der nördlichen Halbkugel Sinn ergibt:
„Im Osten geht die Sonne auf,
im Süden steigt sie hoch hinauf.
Im Westen wird sie untergehen,
im Norden ist sie nie zu sehen.“
Damit kann man mit dem Medizinrad, das auf einem „Weltbild des Augenscheins“ beruht, einen Tagesablauf abbilden. Der Mond wird dabei im Norden angesetzt. Kinder erleben noch heute die Welt in diesem Sinne.
Man kann aber auch ein ganzes Jahr mit dem Medizinrad erfassen. In diesem Fall wird der Frühling im Osten, der Sommer im Süden, der Herbst im Westen und der Winter im Norden angesetzt. Wie oben bereits erwähnt, wurde der christliche Jahreskreis in ein bereits vorhandenes Medizinrad gelegt und die darin enthaltenen großen Jahresfeste, die sich an besonderen Sonnen- und Mondständen orientierten, wurden als christliche Feste neu gedeutet und uminterpretiert.
Schließlich lässt sich mit dem Medizinrad ein ganzes Menschenleben darstellen. Da viele traditionelle Kulturen davon überzeugt waren, dass eine Seele nach dem Tod in eine Art Geisterwelt eingeht, um nach einer bestimmten Zeit wieder in den Stamm hineingeboren zu werden, wurde dies natürlich im Medizinrad berücksichtigt. Demnach kann man die Geburt eines Kindes im Südosten ansetzen und die Kindheit in den Süden, die Jugendzeit in den Westen, die lange Phase des Erwachsenseins in den Norden und das (hohe) Alter in den Osten legen. Der Tod selbst findet dann im Medizinrad etwas südlich von der Ostmarkierung Platz. So, wie ein neuer Tag im Sinne des Medizinrads immer wieder im Osten beginnt, weil die Sonne im Osten oder Südosten aufgeht, so nimmt auch eine Seele nach dem körperlichen Tod eines Menschen einen Neuanfang in einer weiteren Inkarnation. Die Geburt wird deshalb im Südosten des Medizinrads angesiedelt. Zwischen dem Tod und einer Neugeburt befindet sich eine Leerphase, die man auch als „die dunkle Nacht der Seele“ bezeichnen könnte.
In der nachfolgenden Skizze sind neben den vier Haupt-Lebensphasen des Menschen auch die vier Übergänge „Geburt“, (Beginn der) „Pubertät“, „Erwachsenwerden“ und „Älterwerden“ eingezeichnet. Für viele Menschen fällt dieser letzte Übergang etwa mit der Pensionierung zusammen.
Uraltes psychologisches Modell zur Lebensdeutung
Nun könnte man einwenden, dass ein Weltbild des Augenscheins vor dem Hintergrund unseres heutigen naturwissenschaftlich-technischen Weltbildes vollkommen überholt ist. Wir wissen ja, dass unsere Erde ein kleiner Planet im Sonnensystem, die Sonne nur ein winziger Stern in unserer Galaxie „Milchstraße“ und diese wiederum nur eine von Milliarden von anderen Galaxien in unserem Kosmos ist, der sich zudem immer weiter ausdehnt. Was kann uns dann ein so altes Modell wie das Medizinrad noch nützen?
Sehr viel, meine ich. Denn gerade in unserer modernen Technologie-, Kommunikations- und Mediengesellschaft ist das so bedeutende alte Wissen um Initiation, um Lebensphasen und um die notwendigen Übergänge dazwischen, das im Medizinrad überzeugend abgebildet ist, weitgehend in Vergessenheit geraten. In meinem ersten Band „Initiation – Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft“ habe ich ausführlich dargelegt, welch fatale Folgen eintreten können, wenn keine Initiation unserer Jugendlichen stattfindet. 14
Wegen fehlender Initiatonsrituale versuchen gerade Jungen bisweilen mit sehr gefährlichen Mutproben wie verrückten Autofahrten, mit S-Bahn-Surfen, mit dem berüchtigten Komasaufen oder mit Schlägereien, die in der Pubertät neu entdeckte Kraft auszudrücken und zu beweisen. Andere verharren jahrelang in einem Zwischenzustand zwischen Jugend und Erwachsensein, selbst wenn sie schon über dreißig Jahre alt sind, hängen in Depressionen und Orientierungslosigkeit und finden einfach nicht den Dreh zu einem eigenständigen und kraftvollen Leben. Hier kann das Medizinrad sehr zur Lebensdeutung beitragen und die Notwendigkeit rechtzeitig durchgeführter und für unsere heutige Gesellschaft passender Übergangsrituale aufzeigen.
Richtig interessant und aktuell aber ist das Medizinrad aus psychologischer Sicht. 15Denn es kann vier elementare Ebenen im Menschen aufzeigen und jeder der vier Richtungen bestimmte menschliche (Wesens)Eigenschaften und einen Archetyp zuordnen, wie in den folgenden beiden Skizzen zu sehen ist. Dabei sind unter Archetypen grundsätzliche und typische Seelenprägungen oder Seelenfiguren im Menschen zu verstehen:
Im Süden ist der Körper und die körperlich-emotionale Ebene im Menschen anzusetzen. Dazu gehören unsere Triebe und spontanen Gefühle, unsere Sexualität, die kindliche Freude und Unbekümmertheit, die vitale Lebenskraft und die emotionale Fülle. Es geht um Selbstliebe, um Unschuld und Vertrauen. Als archetypische Figur gehören das „innere Kind“ und der „Liebhaber“ mit seiner ungestümen Liebeskraft in uns in den Süden.
Der Westen steht für die oft sehr widersprüchlichen, meist unbewussten Seelenkräfte und damit für die psychische Ebene im Menschen. Gerade Jugendliche erleben ihre Pubertät häufig als Achterbahnfahrt zwischen gefühlsmäßigen Extremen. Sie müssen nicht selten heftige innere Kämpfe zwischen ihren Licht- und vor allem Schattenseiten ausstehen, die sie erst in den Auseinandersetzungen mit sich selbst besser kennenlernen können. Im Westen geht es um Innenschau und Reflexion, um tieferes Bewusstsein, um Träume und Symbole, um Liebe zum Du. Als Archetyp taucht im Westen der „Krieger“ auf, der für uns die inneren und manchmal auch äußeren Kämpfe ausficht, mit Dämonen, Zauberern und bösen Drachen kämpft und schließlich den Schatz oder den Gral findet oder eine Prinzessin befreit. Viele Märchen und Mythen handeln genau davon. Der Krieger ist die psychische Kraft, die unsere innere Heldenreise durchsteht und uns schließlich ins Erwachsensein führen kann.
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