So lange empfehle ich die Caféteria.“ Eine höfliche Aufforderung zu verschwinden. Waldschütz war ausnahmsweise gehorsam und setzte sich mit einer Tasse reinen Öko – Kaffees in die studentische Stube und gönnte sich eine Pause. Er war seit acht Stunden nonstop auf den Beinen und wirkte glücklich über die Arbeitspause, die ihm aufgezwungen wurde. Während er mit den Augen durch das reinigungsbedürftige Fenster schaute und nur schemenhaft den Regen wahrnahm, kreisten die Gedanken um die skelettierte Person, wahrscheinlich männlichen Geschlechts. Der Leichnam – oder besser, das, was davon übrig blieb – wurde in der Gerichtsmedizin von Dr. Helmut Schwarz in Augenschein genommen. Trotzdem drängte ein Impuls in ihm, das Skelett von einer Archäologin untersuchen zu lassen. Waldschütz ahnte nur, dass der befreundete Pathologe den Einsatz der Professorin als Misstrauensbekundung missverstehen würde, was dem Hauptkommissar egal war. „Man muss Freundschaft und Beruf trennen“, machte er sich Mut. Er sinnierte, wie lange ein Mensch tot sein müsste, bis nur ein Skelett an ihn erinnerte? Welche Witterung Einflüsse ausübte auf den Verwesungsprozess? Das waren wichtige Fragen, die er fachfraulich beantwortet haben wollte. Dann und erst nach dieser Aufklärung würde das weitere Vorgehen definierbar werden, sonst würde er im grauen Ermittlungsnebel herumstochern mit geringen Aussichten auf Lichtung. Die Stunde war vorbei, der Applaus der Hörerschaft signalisierte das Vorlesungsende. Waldschütz positionierte sich am Eingang des Hörsaals und erwartete die Gelehrte.
„Ach ja, Sie“, tat Heidmüller, als ob Sie sich wieder nach langer Zeit an ihn erinnerte, wie das Wiedersehen zweier alter Bekannter nach circa zwanzig Jahren.
„Waldschütz, Kripo Stuttgart“, drückte der Kommissar den Ausweis unter die gelehrte Nase. „Ich habe ein dienstliches Anliegen.“ Heidmüller ahnte den Grund.
„Eine skelettierte Leiche, stimmt’s?“
„Exakt.“
Das Gespräch wurde im Dienstzimmer der Professorin fortgesetzt.
„Frau Heidmüller, ich habe mir sagen lassen, dass Sie ...“
„Erfahrungen habe mit der Altersangabe, ja, das könnte man so sagen.“
„Nun ist es so, dass die Leiche, also das, was noch vorhanden ist, in der Gerichtsmedizin in Stuttgart liegt.“ Heidmüller verzog das Gesicht.
„Ich begebe mich nicht dorthin, bringen Sie das Skelett hierher, dann bin ich bereit, mich darum zu kümmern.“ Waldschütz blieb die Sprache weg, eine derart unverschämte Art war ihm nicht untergekommen. Er nickte wie ein Knecht seinem Herrn und bedankte sich für die Hilfsbereitschaft, die er insgeheim als selbstverständlich betrachtete. Nun musste er Dr. Schwarz erklären, warum er den Leichnam zur Uni Tübingen verfrachten lassen wollte.
„Helmut, pass auf: Ich benötige absolut verlässliche Informationen, die weit übers Medizinische hinausgehen.“ Kleinlaut stimmte der Pathologe zu. „Auf deine Verantwortung und mit der Auflage, dass ich das Skelett in zwei Tagen wieder hier auf dem Tisch liegen habe.“ Waldschütz fluchte. Die Welt hatte sich gegen ihn verschworen, dachte er. Alle wollten ihn knuten, dabei lag ihm nur eines am Herzen: den Tod eines Skeletts aufzuklären.
Degelmann dagegen ermittelte in einer anderen Richtung. „Vor vier Monaten wurde die Straße neu geteert und Rohre verlegt. Ich gehe stark davon aus, dass unser Skelett ungefähr in dem Zeitraum dorthin gekommen ist.“ Waldschütz hörte nicht zu, er erinnerte sich an einen Artikel in der Tageszeitung, wo es um die Mafia gegangen war. Gleichzeitig soll in dieser Gegend auch ein Obdachloser zu Tode geprügelt worden sein, eine bislang unaufgeklärte Tat.
„Karin, ich glaube, dass wir diesmal deutlich länger brauchen.“
„Warum?“
„Sagt mein Bauchgefühl.“ Und das behielt meistens Recht. Meistens.
Hauptkommissar Waldschütz transportierte eine ungewöhnliche Fracht in seinem Wagen: eine skelettierte Leiche. Claudia Heidmüller bestand auf einer Untersuchung in ihren Gefilden, also tat der Beamte, was von ihm verlangt wurde.
Die Archäologin hatte sich auf eine interessante Aufgabe eingestellt und Studenten eingeladen, an diesem einmaligen Projekt mitzuwirken. Waldschütz war das überhaupt nicht recht – er hielt die Klappe.
Das Auto mit dem Skelett parkte direkt vor dem Institutseingang, die Gelehrte kam dem Beamten entgegen und half ihm, das Skelett in das Gemäuer zu tragen. Im Gegensatz zum Kommissar dachte die Archäologin weniger an den ehemaligen Menschen, der das Skelett mal gewesen war, für sie versteckte sich darin ein Objekt wissenschaftlichen Interesses und so behandelte sie den Toten auch. Ziemlich ruppig und wenig respektvoll. Waldschütz zog indigniert die Augenbrauen hoch und hatte alle Mühe, den Zorn im Zaume zu halten.
Heidmüller hievte die Knochenteile auf einen Untersuchungstisch und startete erst einmal einige technische Geräte. Nicht nur für die Analyse, sondern zur Veranschaulichung für das studentische Publikum. Selbst zog sie eine Lampe über ihren Kopf, damit sie die Stellen beleuchtete und exakt analysieren konnte. In den Händen hielt sie unterschiedliche Instrumente, von der Pinzette bis zum Schaber – die Leiche wurde noch einmal zerlegt.
„Wo, sagten Sie, haben Sie die Leiche gefunden?“, fragte sie Waldschütz.
„In Stuttgart Bad Cannstatt und dort in einem Abflussrohr.“ In den Augen der Professorin konnte man ihre Gedanken ablesen. Sie dachte ans Wetter, den Zustand der Knochen und natürlich, ob der Tote dort ermordet wurde.
„Schauen Sie die Härte der Knochen“, sprach sie alle im Raume an, „die Knochendichte verrät eine sehr kurze Liegedauer im Rohr. Höchstens vier Wochen.“
„Und wie wirkte sich das Wetter aus?“, wollte Waldschütz wissen.
„Die Hitze war der entscheidende Faktor für die beschleunigte Skelettierung.“ Aha, dachte der Polizist. Mit der Lupe fuhr die Professorin quadratmillimeterweise die Überreste ab, insbesondere den Schädel. Ein kleiner Rest eines Loches war auszumachen.
„Herr Kommissar“, richtete sie das Wort an Jochen Waldschütz, „ich würde mal behaupten wollen, dass der Tote erschossen wurde. Man kann mit mathematischen Formeln das Kaliber der Waffe hochrechnen.“ Dem Vorgang musste noch die 3 - D - Rekonstruktion vorgeschaltet werden. Sie hatte ein entsprechendes Computerprogramm, machte zuvor Bilder vom Toten, ehe sie die Rechenmaschine in Gang setzte.
Die Untersuchung nahm ihren Fortgang. „Ich kann Ihnen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Leichnam nicht länger als drei Tage im Abflussrohr gelegen hat. Denn die Nässe der letzten Tage hätte ihre Spuren in der Knochenstruktur hinterlassen. Das heißt, dass jemand das Skelett dort abgelegt haben muss.“
Waldschütz staunte nicht schlecht. Seine Wut wandelte sich in Respekt. Aber noch nicht genug: „Schauen Sie: Der Mensch litt an Osteoporose und muss – man kann das leicht riechen – zur Behandlung ein Weihrauchpräparat eingenommen haben. Vielleicht ein Priester, der leicht an ein entsprechendes Mittel herankam.“ Waldschütz blieb der Mund offen. Die Krönung kam noch, Heidmüller untersuchte alles haarklein, nicht einmal, nein zwei, drei Male oder häufiger. Dann sagte sie einen Satz, der ein Gemurmel auslöste: „Die Beckenstellung verrät, der Herr muss unmittelbar vor seinem Tod Geschlechtsverkehr gehabt haben. Wenn Sie wünschen, lass ich auch vom Beckenknochen eine 3 -D- Rekonstruktion anfertigen.“ Vor Begeisterung über das Können der Wissenschaftlerin willigte Waldschütz ein. Mittlerweile hatte der Computer das dreidimensionale Gesicht ausgerechnet und in Bildpunkte umgewandelt. Heidmüller druckte es aus und gab Waldschütz das Foto. Der Rechner hatte die Beckenknochenrekonstruktion noch nicht beendet, da fiel der Hauptkommissar in eine untypische Nachdenklichkeit. Kaum ansprechbar grübelte er über dem Gesicht des Toten und überlegte, wer das jetzige Skelett gewesen sein könnte. Waldschütz sagte kein Wort.
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