Im Dezember 1994 ging ich in die berühmte Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Tübingen zum Gehtraining. Das Fachpersonal brachte mir mit professionellen Maßnahmen das richtige Gehen bei. Sonst hätte ich nie richtiges und gesundes Gehen gelernt. Nach dem Unfall mit der Lokomotive wurde ich drei Operationen unterzogen. Die erste fand direkt danach in Ludwigsburg statt. Zwei weitere Eingriffe folgten in Stuttgart im Katharinenhospital. 1996 wurden mir die chirurgischen Metallteilchen herausgenommen. DreiJahrespäter folgte die Hüftoperation. Um die Jahreswende 1999/2000 absolvierte ich noch einmal ein Gehtraining in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen.
Nach der Hüftoperation im Jahre 1999 erhielt ich als einzige Person auf der Station ein vollautomatisches Bett. Das war für mich ein großer Segen. Nach solch einer schwierigen Operation brauchte ich ständig die Unterstützung einer Krankenschwester. Diese Wunder der Technik halfen mir unglaublich. Ich drückte verschiedene Knöpfe mit der Hand und konnte dadurch die Position meines Körpers zu jedem beliebigen Zeitpunkt regulieren. Eine Sache gab mir dabei zu denken: In demselben Zimmer lag ein alter Deutscher, der die gleiche Operation hinter sich hatte, aber er erhielt nicht so ein Bett. Und ich, ein Pole, wurde so ausgezeichnet. Der Chefkrankenpfleger in unserer Station sagte mir, dass das Krankenhaus nur ein paar hochmoderne Betten dieser Art erhielt. Es gab Stationen, die gar keines bekamen. Auf unserer Station gab es mehrere Patienten in einem ähnlichen Zustand, aber gerade ich war es, der dieses Bett bekam. Ein bedeutendes Lächeln schwebte dem Krankenpfleger bei diesen Worten um seinen Mund. Er machte deutlich, dass das eine Auszeichnung für mich war. Ich bedanke mich beim Gott für sein großzügiges Geschenk und bei dem Krankhauspersonal, das sich mir gegenüber wohlwollend verhielt.
Zwei Wochen nach der Hüftoperation wurde ich zu der schon erwähnten Klinik in Tübingen für Rehabilitation überwiesen. Nach intensiven Übungen konnte ich meine Knie endlich wieder mühelos beugen. In Deutschland haben die Rehabilitationskliniken Cafés. An diesen Orten ist Alkohol allgemein erhältlich. In meinem Fall war es kein guter Umstand. Ich sah mein Alkoholproblem nun schon ganz klar. Seit dem Unfall erklärte mein Gewissen der Alkoholsucht einen regelrechten Krieg. Dieser harte Krieg spielte sich leider in mir selbst und zulasten von mir ab. Der Heimkrieg, der in mir tobte, war tatsächlich der tragischste Sturm, der in meinem Leben losbrach. Mein Gewissen machte mir nicht nur die Vorwürfe, dass ich trank. Es griff mich regelrecht an. Am Anfang wurde mir nicht klar, dass sich die spirituelle Welt und zwar ihre zwei wichtigsten Pfeiler – das Gute und das Böse – in mein Alkoholproblem einmischten. Das passierte kurz nach dem Unfall im Jahr 1994. Meine Auseinandersetzung mit mir selbst wurde zum Interventionskrieg in der spirituellen Welt.
Ich war manchmal schon ordentlich beschwipst, wenn ich im Krankenhaus aus dem Café auf die Station zurückkam. Entgegen dem gesunden Menschenverstand kam ich auch auf eine bestimmte Idee, die dazu führen konnte aus dem Krankenhaus disziplinarisch entlassen zu werden. Wäre dies zustande gekommen, hätte die Versicherung die Kosten meiner teuren Behandlung nicht mehr gedeckt. Das wäre für mich wiederum eine Katastrophe gewesen. Trotzdem setzte ich diese Idee um. Eines Abends ging ich aus dem Krankenhaus, stieg in den Stadtbus ein und ließ mich ins Stadtzentrum von Tübingen fahren. Dort, in den Kneipen, wollte ich mir meinen langweiligen Krankenhausalltag etwas angenehmer machen. Nach mehreren Stunden nächtlicher Trinkerei machte ich, der sich an Krücken herumtreibende Penner, die Polizei auf sich aufmerksam. Um vier Uhr brachten sie mich zurück in die Klinik. Die zwei Gesetzeshüter – ein Mann und eine Frau – waren sehr nett und freundlich. Die Polizistin war schön und gefiel mir von Anfang an. Über den ganzen Weg ins Krankenhaus machte ich ihr Liebeserklärungen, was wiederum ihren Kollegen mehrmals in Gelächter ausbrechen ließ. Glücklicherweise verlor er deswegen die Kontrolle über das Lenkrad nicht. Als die Polizei mich zur Station brachte, unterhielten sie sich eine Weile über mich mit der Krankenschwester, die gerade im Dienst war. Der Polizist und die Krankenschwester platzten vor Lachen, aber die amüsierte Stimme der Polizistin konnte ich nicht vernehmen. Während ich sie leidenschaftlich und eifrig komplimentierte, starrte sie mich an. Ihre Augen strahlten vor Freude. Vielleicht wurde sie noch nie im Leben so nett angesprochen. Ich glaube, dass gerade die deutsche Polizei in ihren Reihen die schönsten Frauen der Welt hat.
Am Morgen kam der Stationsarzt zu mir und sagte, dass für das eigenmächtige Verlassen der Klinik und die Rückkehr unter Alkoholeinfluss sogar mit der polizeilichen Begleitung die stärksten Strafmaßnahmen drohen, inklusive der sofortigen Kappung der Behandlungsfinanzierung. Obwohl ich noch nicht ganz nüchtern war, begriff ich genau, wie sehr ich es übertrieben hatte. Der Spaß hörte für mich auf. Ich antwortete dem Arzt ohne Zögern: „Ich fühlte mich hier so einsam, dass ich das Krankenhaus verlassen musste, sonst wäre ich ausgeflippt. Um das zu vermeiden, musste ich mich etwas amüsieren.“ Der Arzt schaute mich kurz an, als ob er mein Problem richtig verstanden hätte und erwiderte: „Ja. Ich verstehe Sie. Aber das ist nicht Mallorca. Ich spreche darüber noch mit dem Chefarzt.“
Kurz darauf kam er mit dem Chefarzt. Der Professor war eine bekannte Persönlichkeit in der deutschen Medizin. Ich erzählte kurz aber ausdrücklich die Geschichte über meinen Trübsinn, der mich zu einer total verrückten Entscheidung führte, die ich kaum beeinflussen konnte. Ich fügte hinzu, dass ich erst jetzt darüber im Klaren war, was tatsächlich geschehen war. Früher sei es mir gar nicht in den Sinn gekommen. Als ich mich über meine Traurigkeit beschwerte, entschuldigte ich mich wahrscheinlich gar nicht für meinen Unfug, weil ich mich für das Opfer meines eigenen Zustands hielt. Meine Enthüllungen waren beinahe unverschämt. Ich zeigte überhaupt keine Reue, aber erreichte trotzdem das erwünschte Ziel. Auch wenn ich Reue ausgedrückt und mich für mein Verhalten demütig entschuldigt hätte, hätte ich das, was ich angestellt hatte, nicht wiedergutmachen können. Der Professor kam zu mir mit derart unfreundlichem Gesichtsausdrück, als ob die Sache für ihn schon erledigt gewesen wäre. Nach meiner kurzen Rede schaute er mir kurz in die Augen und ging raus, ohne ein Wort zu sagen. Im Endeffekt wurde ich gar nicht bestraft.
Erst um die Mittagszeit, als ich schon ordentlich ausgenüchtert war, dämmerte es mir, wie viel Glück ich hatte und wie viel ich hätte verlieren können. Meine Kollegen aus dem Krankenhaus erzählten mir von ähnlichen Fällen. Die Kerle, die zu viel Alkohol tranken, hatten nicht so viel Glück wie ich. Noch einmal verschonte mich Gott vor einer nicht geringen Tragödie. Ich merkte, dass ich bestraft wurde, aber gleichzeitig, dass mich eine bestimmte Kraft vor dem endgültigen Untergang schützte. Ich wusste einfach nicht, worum es hier ging.
Zum zweiten Gehtraining nach der Hüftoperation, das für Dezember 1999 geplant war, kam ich ein paar Tage zu spät an. Ich trank wie gewöhnlich, und es fehlte mir die Kraft, mich aus dem Säuferwahn loszureißen und pünktlich in der Klinik eintreffen. In Deutschland ist Ordnung und Disziplin von großer Bedeutung. Die Termine werden hier zwingend eingehalten. Da sich meine Seele in jener Zeit in einem elenden Zustand befand, passte ich mich diesen Regeln immer wieder nicht an. Ich konnte nicht ertragen, was ich selbst anstellte. Allerdings führte diese Frustration nicht zu irgendeiner Verhaltensänderung von mir. Ich schämte mich dafür und versuchte, aus jeder Not herauszukommen, in die ich von meinem paarhufigen Teufel getrieben wurde. Bei mir gehörte es schon zum Alltag, dass ich versuchte, alle Schäden, die ich anrichtete, nachzubessern, da ich zu einem Sklaven meiner selbst wurde.
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