Das Flugzeug setzte in diesem Moment krachend auf der Landebahn auf. Der Pilot schien noch nicht so oft gelandet zu sein. Es gab aber trotzdem rauschenden Beifall in der Kabine, wie nach einem Stück in der Schillertheater. Nicht dass die beiden Piloten gleich aus ihrer Kanzel kommen und sich ebenso verbeugen wie die Schauspieler, dachte ich süffisant.
»Wir können ja auf dem Flughafen noch einen Kaffee trinken«, schlug ich Isabelle vor und half ihr, die schwere Handtasche aus dem Fach zu ziehen.
»Gute Idee. Wir treffen uns bei den Gepäckbändern.«
Bevor es raus ging musste ich Franky und Cash wecken, die die tatsächlich schnarchend überstanden.
Während Franky und Cash an der Bushaltestelle des Flughafens warteten, brachte ich Isabelle und Petra zu ihrem Bus nach Rethimnon. Nach Größe und Gewicht ihrer Taschen – ich trug beide – zu urteilen müssten sie vier oder fünf Monate bleiben. Petra verabschiedete sich lächelnd und kletterte in den Bus, Isabelle blieb noch. »Vielleicht kommst du mich ja wirklich mal besuchen«, sagte sie, »ich würde mich freuen.« Ich registrierte sofort, dass sie ‚mich’ gesagt hatte, nicht dieses anonyme ‚uns’, wie noch im Flugzeug. Mein Puls schnellte sofort auf 180 hoch. Vor mir tauchte die Abschiedsszene von Casablanca auf, anstelle dieses alten Propellerflugzeuges hätte jedoch ein fast ebenso antiker griechischer Überlandbus und seine gigantische Abgaswolke als Kulisse herhalten müssen. Sie schien genauso angespannt zu sein wie ich selbst.
»Mach‘s gut, bis bald«, sagte sie plötzlich und unterbrach mich dabei, wie ich gerade in Gedanken die nächsten Wochen mit ihr grob vorskizzierte. Einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, sie wollte mir einen flüchtigen Kuss geben. Das bildete ich mir immer ein, wenn ich eine Frau verabschiedete und rührte wahrscheinlich noch aus der Zeit, als meine Mutter mich schweren Herzens im Kindergarten absetzte. Isabelle reichte mir nur die Hand, die sich zart und samtig anfühlte und die ich in diesem Moment gerne noch länger gehalten hätte.
Isabelle lächelte ein letztes Mal, drehte sich um und verschwand im Bus. Auf dem Weg zum Flughafengebäude spürte ich zum ersten Mal den Konflikt in mir aufkommen, der mich lange Zeit nicht loslassen würde.
Die Fähre, die uns auf das mediterrane Eiland bringen sollte, hörte auf den Namen King Minos und schien noch zu Lebzeiten dieses legendären minoischen Herrschers gebaut worden zu sein. Wir lagen auf den von der Tagessonne noch warmen Stahlplanken des Seelenverkäufers und weil ich in meinem stickigen Schlafsack nicht einschlafen konnte, dachte ich über Isabelle nach. Das heißt, ich dachte eigentlich mehr über mich selbst nach, beziehungsweise dachte ich darüber nach, warum ich mir über eine Frau Gedanken machte, die ich erst kurz zuvor kennen gelernt hatte. Insbesondere, da wir uns unausgesprochen einig waren, dass wir mit Frauen alles Mögliche machen wollten, außer über sie nachzudenken. Und dann fiel mir ein, dass es nicht lange her war, seit ich das letzte Mal über eine Frau nachgedacht hatte: über Sybille.
Der Anfang mit Sybille war vielversprechend. Ohne Frage. Sie beeindruckte mich schwer, als ich sie das erste Mal traf. Eindrucksvolles Äußeres und vor allem ein interessanter Job: Immobilienmaklerin. Im Zuge unserer erfolglosen Suche nach einer WG-geeigneten Dreizimmerwohnung in Schöneberg, Kreuzberg, Charlottenburg oder Wilmersdorf, stieg der Immobilienmakler in meinem persönlichen Berufsranking in atemberaubendem Tempo auf einen Spitzenplatz.
Wir hatten verschieden Maklerbüro aufgesucht und landeten desillusioniert im Büro von Sybille.
Cash entdeckte die Annonce in der Morgenpost am Sonntagvormittag und brachte die Anzeige am Abend mit in den Stall , eine Kneipe in Schöneberg, in der wir schon unzählige Abende miteinander verbracht haben. Dreizimmer-Wohnung in Schöneberg, 105 Quadratmeter, Bad, 700 Mark kalt, Abstand 1500 Mark . Am nächsten Morgen standen wir pünktlich um zehn Uhr in Sybilles schlichtem Büro in der Knesebeckstraße.
»Taxifahrer, Fahrer für Bürobedarf und Kellner? Ihr habt keine Chance, glaubt es mir«, sagte sie abschätzend und blickte uns der Reihe nach an. Dunkle Augen, halblange, glatte Haare, rot gefärbt. Die Nase war ein wenig groß geraten, aber das empfand ich nicht als Makel und es war definitiv nicht ihre Nase , von der ich in der folgenden Nacht geträumt hatte.
»Aber können wir sie nicht einmal sehen? Ich meine, ablehnen können sie uns immer noch«, setzte Franky noch einmal nach.
»Der Vermieter möchte ein älteres Ehepaar haben«, sagte Sybille, deren Namen ich zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht kannte.
»Dann gehst du mit Cash hin«, sagte Franky lachend und klopfte mir auf die Schulter. Sybille fand das anscheinend auch witzig und lächelte mit.
»Ich habe da aber noch etwas anderes«, sagte sie plötzlich und blätterte in einem Stapel Akten auf ihrem chaotischen Schreibtisch. »Drei-Zimmer, Altbau, 670 Mark warm, glaube ich.«
Unsere Hälse wurden bei jedem ihrer Worte länger, bis sie »in Neukölln« hinzufügte. Wir schluckten alle drei hörbar, Cash räusperte sich.
»Hier hab' ich die Wohnung. Friedelstraße, gleich beim Herrmann-Platz.«
»Da ist Karstadt«, hörte ich mich spontan sagen. »Soviel ich weiß, das größte Karstadt-Haus in Berlin.«
»Das ist nun wirklich scheißegal, ob da Karstadt ist«, murrte Franky, »Neukölln ist das Problem.«
»Wir sollten sie uns anschauen, Franky«, sagte Cash, »vielleicht ist das ja doch etwas«.
»Ich bin auch dafür«, stimmte ich ein und bemerkte die lächelnde Unterstützung von Sybille.
»Der Vermieter ist ein älterer Herr. Ich habe sozusagen die Verwaltungshoheit über die Wohnung und die Schlüssel«, sagte Sybille aufmunternd. »Ihr könnt sie euch noch heute ansehen.«
Als wir mit zehn Verspätung am Nachmittag vor dem Haus in der Friedelstraße eintrafen, erwartete Sybille uns schon. Die Wohnung lag im ersten Hinterhof rechts, zweiter Stock. Drei Zimmer, 22, 18 und 16,5 Quadratmeter. Dazu eine riesige Küche und ein schmales Bad mit Badeofen aus der Jahrhundertwende. Wir schlichen durch die Wohnung wie eine Familie, die ein Fünf-Sterne-Appartement gebucht und drei Zwei-Sterne-Zimmer bekommen hatte. Eine zwanzigminütige Diskussion, an der auch Sybille teilnahm, führte zum Entschluss, die Wohnung zu nehmen. Besser als gar nichts, allerdings nicht viel besser.
»Wer von euch dreien begleitet mich denn nun nach Lichtenrade?«, fragte Sybille. »Dort wohnt nämlich Herr Allthoff. Einer müsst den Mietvertrag unterschreiben und es ist besser, wenn ihr nicht alle auftaucht.«
»Wie, nur einer von uns?«, fragte Cash.
»Genau. Es soll nicht gleich nach einer Männerwohngemeinschaft aussehen. Ihr könnt hinterher Untermietverträge machen. Das ist kein Problem. Aber einer muss der Hauptmieter sein.«
Wir schauten uns gegenseitig an. Der geborene Hauptmieter war in meinen Augen Cash, doch Franky hatte eine andere Idee. »Wir losen! Denken Sie sich eine Zahl zwischen 1 und 100«, wandte er sich an Sybille. »Wer am nächsten dran ist, geht mit.«
Das Los fiel auf mich und meine Lieblingszahl 7. Angeblich hatte Sybille sich die 10 gemerkt. Ich war überzeugt, dass sie nur deswegen die 10 nannte, weil sie mit mir zu dem Vermieter gehen wollte und weil es ihr auch ganz egal war, wohin wir gehen würden.
Wir verabredeten uns am folgenden Samstag um 11 an der Hasenheide vor dem Eingang zum Karstadt -Haus. Ich stand schon zehn Minuten vorher vor Ort. Um zehn Minuten später hupte sie und winkte aus einen zartgrünen Audi 80 heraus. Ich ließ mich auf dem Beifahrersitz nieder und wurde von einer Parfümwolke erdrückt. Im Gegensatz dazu hatte sie sich dezent geschminkt, wie eine Hausfrau, die wegen ein paar fehlender Lebensmittel noch einmal zu Bolle ausrücken musste.
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