„Machst du Scherze? Wenn dein Bruder nicht dazwischen gegangen wäre, würde er dich immer noch festhalten.“
Jetzt strahlte ich auch. Es war schön zu wissen, dass meine Tante es so sah. „Danke, ich hoffe, es wird so sein. Tante Lana, ich habe noch nie so viel für einen Mann empfunden und deswegen weiß ich nicht, wie ich sein Verhalten einschätzen soll.“
„Mach dir mal keine Sorgen. Ihr beiden gehört zusammen, das hat jeder gespürt. Allein die Tatsache, dass sogar deine Seele den Weg zu ihm gefunden hat, sagt schon alles. Du liebst ihn doch? Oder etwa nicht?“
Die Schamesröte stieg mir ins Gesicht. Diese Erkenntnis, die mein Herz schon geahnt, ich aber noch nie laut ausgesprochen hatte, würde ich jetzt Lana offenbaren. „Ja, ich liebe ihn von ganzem Herzen.“ Diese Worte auszusprechen, machten es plötzlich so real. Ich liebte ihn. Einerseits sollte ich überglücklich sein, aber anderseits plagten mich Zweifel und Angst, dass ich ihn verlieren könnte, bevor ich ihn überhaupt erst richtig kennengelernt hatte. Schnell fegte ich diese Gedanken aus meinem Kopf. Trotzdem, tief in meinem Herzen, setzte sich dieses Gefühl langsam fest, dass ich ihn verlieren könnte.
Lana drückte mich noch einmal. „Komm mein Schatz, ruf die anderen zum Essen!“
Ich rief die Namen aller ins Treppenhaus hinaus, und nach ein paar Minuten saßen wir bei Tisch. Schon wieder essen, was bei Familienzusammenkünften üblich war. Jeder starrte auf seinen Teller.
Plötzlich warf mir Jazem einen missbilligenden Blick zu und herrschte mich wutschnaubend an. „Was sollte das vorhin? Der Kerl hat dich berührt, hat dich gestreichelt und du hast es einfach so hingenommen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass meine Schwester sich dem Willen fremder Männer widerstandslos beugt“, tobte er. Dann wandte er sich vorwurfsvoll meinen Eltern zu. „Und ihr? Ihr habt es einfach zugelassen, dass er sie berührte. Ihr habt nichts dagegen unternommen. Ich verstehe das einfach nicht“, schimpfte er wie ein Rohrspatz.
„Hör sofort damit auf!“, wollte mein Vater ihn beruhigen.
„Nein, das tu ich nicht. Er hat sie angefasst, und es ist mir egal, ob er der Sohn eines Herrschers ist oder eines Schweinehirtens. Er hat nicht das Recht, meine Schwester anzustarren, geschweige denn, sie zu berühren. Hätte ich ihn nicht zurückgehalten, hätte er sich auf sie gestürzt, wie ein Raubtier auf seine Beute.“
„Jazem, es reicht!“, mahnte mein Vater verärgert, dabei schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch. Das Geschirr klirrte. Erschrocken schauten wir Keleb an. „Glaubst du wirklich, ich hätte das zugelassen? Ich bin ihr Vater. Sie ist meine einzige Tochter“, betonte er mit Nachdruck. Er atmete tief durch. Selten kam es vor, dass Vater wütend wurde, aber jetzt war er explodiert. Nun bemühte er sich, sich zu beruhigen, um sachlich die Lage zu erklären.
Jazem war mit erschrockener Miene zurückgewichen. Papas Ausbruch hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Ihm wurde klar, dass er Vaters Autorität untergraben hatte. Seine Anspannung und Wut ließen nach, und er sackte in sich zusammen. Reumütig sah er zu Vater auf. Als der ihn so da sitzen sah, war seine Wut verflogen.
Ich hasste es, wenn gestritten wurde. Es kam selten vor, aber wenn, floh ich immer sofort auf mein Zimmer. Diesmal ging das nicht, da dieses Streitgespräch sich um mich drehte.
Vater erhob sich und bat Casper, der neben Jazem saß, mit ihm den Platz zu tauschen. Papa setzte sich und legte seine Hand auf Jazems Schulter. Diese Geste war entgegenkommend. „Mein Junge, ich weiß, wie du dich heute gefühlt hast und ich verstehe, dass du so wütend geworden bist. Es ist auch für mich schwer, aber wir müssen langsam akzeptieren, dass Isma zu einer wunderschönen Frau herangewachsen ist, und dass Männer sich nach ihr umschauen.“
„Aber Vater, Jeremia Nahal hätte sie mit seinen lüsternen Blicken, wenn er gekonnt hätte, wahrscheinlich weggezerrt. So wie er sie angestarrt hat, war es niederträchtig und billig.“
„Jazem, es gibt Dinge, die du noch nicht weißt, die wir nach dem Essen, dir und deinen Brüdern endlich erzählen müssen. Deine Schwester und deine Mutter werden euch alles erklären“, dabei drehte er sich in meine Richtung und nickte mir zu.
Jazems böser Blick traf meinen, doch ich hielt stand. Ja, ich war nun eine Frau und ich liebte Jeremia und ich würde alles tun, um ihn nicht zu verlieren, auch wenn es bedeutete, dass ich zum ersten Mal meinem Bruder die Stirn bieten müsste.
Ich nickte meinem Vater zu.
„So, dann wäre das fürs Erste geklärt. Lasst uns nun zu Ende essen. Wir haben nicht mehr lange die Möglichkeit, als Familie zusammenzusitzen“, bat mein Vater.
Nachdem Mutter, Tante Lana und ich den Abwasch erledigt hatten, wechselten wir mit einer Kanne frischem Tee von der Küche ins Wohnzimmer, wo mein Vater mit meinen Brüdern wartete. Mutter setzte sich neben Vater, während Lana jedem noch eine Tasse Tee einschenkte, bevor sie sich auch niederließ. Ich blieb an der Türschwelle stehen. Alle warteten gespannt auf das, was ich nun zu sagen hatte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und berichtete, was mir in den letzten Wochen passiert war. Ich erzählte ihnen von den Träumen, die ich von dem Territorium Cavalan hatte. Wie ich von dem Krieg erfuhr. Meine Ängste wegen meiner Unwissenheit. Dass Mutter und ich Seelenwanderinnen sind. Ich versuchte, ihnen meine Gefühle zu Jeremia zu erklären, auch wenn es mir sehr schwer fiel, so offen zu sprechen.
Als ich geendet hatte, wartete ich auf Reaktionen. Doch Minuten des Schweigens entstanden, die mir vorkamen wie Stunden, bis sich Mutter erhob und sich neben mich stellte.
„Diese Gabe ist in der heutigen Zeit sehr schwierig. Wir Seelenwanderinnen mussten uns immer verstecken, da es Menschen gibt, die uns hassen. Deswegen habe ich meine Gabe nicht mehr genutzt und verschwiegen. Als ich dann von Aaron erfuhr, dass Isma an ihren Träumen und Zweifeln fast zerbrechen drohte, wusste ich, dass es Zeit war, ihr davon zu erzählen. Wichtig ist: ihr dürft mit niemanden darüber sprechen. Wenn die falschen Leute erfahren sollten, dass Isma eine Seelenwanderin ist, droht ihr Schlimmes.“
„Und was ist mit Jeremia? Darf sie ihm davon erzählen?“, wollte Casper wissen.
„Das liegt ganz bei Isma. Sie soll es selbst entscheiden, wenn sie erkannt hat, in welcher Beziehung sie zu ihm steht. Ihre Seele wanderte zu Jeremia, auch wenn sie nie zuvor von ihm gehört hatte. Er konnte sie spüren, als ihre Seele bei ihm war, was eigentlich nicht sein dürfte. Irgendwie sind ihre Seelen miteinander verbunden und die Reaktion, die heute von Jeremia ausging, bestätigt nur, dass es Schicksal ist, dass die beiden sich begegnet sind“, erklärte meine Mutter.
„Bitte versteht mich. Ihr müsst an mich glauben. Ich brauche euren Halt. Ihr seid immer für mich da gewesen, und jetzt brauche ich euch umso mehr“, flehte ich meine Brüder an. „Es muss doch einen Grund geben, dass ich erst damit begonnen habe, zu träumen, als Netan sich entschlossen hatte, anzugreifen, um Herrscher über ganz Galan zu werden. Ich habe eine Aufgabe, davon bin ich felsenfest überzeugt und Jeremia hat auch etwas damit zu tun, sonst hätte meine Seele nicht den Weg zu ihm gefunden.“
Theran stand auf. „Es fällt mir einfach schwer, das zu glauben, Isma. Die Bürde, die du da auf dich genommen hast, kannst du doch nicht bewältigen. Du bist doch nur ein junges Mädchen. Warum soll das Schicksal dich erwählt haben?“
„Ich weiß es nicht, aber es ist nun mal so“, sagte ich trotzig.
„Gut, dann helfe ich dir; du hast meine volle Unterstützung“, antwortete mir Theran nach kurzem Zögern.
„Meine hast du auch“, ergänzte Talon.
„Was ist mit dir, Casper, glaubst du an mich?“
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