Philipp warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. 20:39 Uhr. Verdammt, schon so spät!, dachte er und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Kopfschüttelnd vergrub er sein Gesicht in den Händen. Fast bedauerte er seine heutige Entdeckung. Wenn das wahr war, dann … Wieder schüttelte er ungläubig mit dem Kopf, als er sich schwerfällig erhob. Vom langen Sitzen schmerzte sein Rücken. Sport wäre jetzt vielleicht der richtige Ausgleich, zog er kurz in Erwägung, aber sein knurrender Magen hatte eine verlockendere Alternative parat. Also entschied er sich für Currywurst mit Pommes auf dem Heimweg. Hastig sortierte er die Dokumente wieder in die richtige Reihenfolge und verstaute sie da, wo er sie gefunden hatte: im Safe. Dann ließ er einen prüfenden Blick über das Büro schweifen, beobachtete kurz die Bilder der Überwachungskameras, zückte schließlich sein Smartphone und machte wie jeden Abend ein Foto von seinem Arbeitsplatz, um am nächsten Morgen sicher zu sein, dass noch alles an seinem Platz und nichts verändert war. Weder der Kugelschreiber noch die Maus oder die Armlehnen seines Sessels oder sonst irgendetwas. Mit einem lauten Knacken ließ er die schwere Tür ins Schloss einrasten. Reflexartig vergewisserte er sich, dass die Tür wirklich verschlossen war, erst dann schaltete er auf dem Flur das Licht an. Offenbar war er nicht nur der Erste, der morgens zur Arbeit erschien, sondern wieder mal der Letzte, der ging. Als er mit dem Fahrstuhl ins Erdgeschoss fuhr, lockerte er seine Krawatte und betrachtete kurz sein müdes Spiegelbild. Augenränder hatten sich wie nachtragende Schatten seiner schlaflosen Nächte tief in sein Gesicht gegraben und sein ehemaliger Drei-Tage-Bart mutierte mehr und mehr zu einem dichten, dunklen Vollbart. Er fuhr sich durch seine dunkelbraunen Haare und ließ den Blick an sich hinabschweifen. Wenn das so weiter ging, würde er bald einen Bauch ansetzen. Kurz fühlte er sich an seine alte Eitelkeit erinnert. Früher mal war er sehr bedacht auf sein Äußeres gewesen, aber das war lange her, und seit er seine neue Arbeitsstelle angetreten hatte, vernachlässigte er es noch mehr. Nach der langen beruflichen Auszeit wollte er endlich einen guten Job machen, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hungerte er vor allem nach Anerkennung. Mit einem Knopfnicken verabschiedete er sich am Empfang vom diensthabenden Wachmann und trat hinaus in die Kälte. Ein Schwall frischer Luft schlug ihm entgegen. Er atmete tief durch und blickte in den schwarzen Himmel über ihn. Wieder musste er an die Papiere denken, die er entdeckt hatte. Es war unfassbar! Kopfschüttelnd machte er sich auf den Weg zu seinem silberfarbenen Mercedes-Benz 300 SL Roadster, den er sich mit seiner ersten vielversprechenden Gehaltsabrechnung finanziert hatte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass der Gehweg nass war. Offensichtlich hatte es geregnet, ohne dass er es mitbekommen hatte. Plötzlich hörte er ein leises Wimmern. Instinktiv stellten sich seine Nackenhaare auf. Er hielt inne und versuchte, die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren. Seine Gedanken überschlugen sich. Was war das? Es klang wie ein Kind, das verzweifelt versuchte, nicht zu weinen. »Ist da jemand?«, rief er laut. Absolute Stille. Weder ein Wimmern noch ein Schluchzen war mehr zu hören. Er kratzte sich am Kopf und überlegte. Vielleicht war es auch nur eine Katze oder aber sein Tinnitus hatte ihm einen üblen Streich gespielt. Gerade als er sich abwenden und nach links zu seinem Auto gehen wollte, vernahm er ein gedämpftes, schmerzerfülltes Stöhnen. Es kam von rechts aus Richtung der Einfahrt. Alarmiert blickte er um sich und öffnete mit einem geübten Griff das Gürtelholster seiner Waffe. Zu dieser späten Stunde war der Parkplatz vollkommen verlassen. So weit die dürftige Beleuchtung es zuließ, hatte er freie Sicht. Sein Auto stand unweit links von ihm. Er aber ging im Schutz des Bürokomplexes langsam nach rechts. Fast hatte er das Ein- und Ausfahrtstor erreicht, als er wieder ein Wimmern hörte. Jetzt laut und deutlich. Das war keine Katze und kein Tinnitus, sondern ein Mensch. Keine Frage. Schnell tippte er den Zahlencode in das Tastenfeld an der Tür neben dem Tor ein, dann führte er seine Chipkarte vor das Lesegerät. Surrend öffnete sich die Tür. Er verließ das Firmengelände und blickte um sich. Stumm verfluchte er die spärliche Straßenbeleuchtung, als er einer Eingebung folgend nach rechts abbog und die Straße und den Gehweg so gut es ging nach etwas Verdächtigem absuchte. Abrupt beschleunigte sich sein Herzschlag, als er im Halbdunkel plötzlich Beine entdeckte, die aus einem Gebüsch ragten. Mit schnellen Schritten eilte er zu der Person, die versuchte, sich aufzurichten. »Oh Gott! Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte er und half der Frau in eine sitzende Position. Zu mehr war sie offensichtlich nicht in der Lage. »Was ist passiert? Sind Sie überfallen worden? … Warten Sie, ich rufe einen Krankenwagen.« »Nein, bitte nicht!«, hörte er sie mit zittriger Stimme sagen. Verständnislos musterte er die junge Frau. Auf Anfang 20 schätzte er sie. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen und dick angeschwollen. Sie konnte es kaum öffnen. Ihr ganzes Gesicht war verschmiert. Er war sich nicht sicher, ob mit Blut oder Schminke. Wahrscheinlich aus beidem, schlussfolgerte er. »Aber Sie sind verletzt! Sie bluten … Sie müssen in ein Krankenhaus!« »Nein, bitte nicht!«, sagte sie immer noch sehr leise, »das sieht schlimmer aus, als es ist.« »Das wage ich zu bezweifeln. Auf jeden Fall rufe ich die Polizei! Hat man Ihnen etwas gestohlen?« »Nein, bitte auch keine Polizei!« Ihre Stimme wurde lauter. »Aber …« »Das war mein Freund … Beziehungsweise mein Exfreund.« »Ein Grund mehr zur Polizei zu gehen!« »Nein, ich will das nicht! Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe. Das ist nicht Ihr Problem!« »Aber ich kann Sie hier doch nicht einfach liegen lassen!« »Mir geht es gut … also, es ging mir schon mal besser, aber … wird schon wieder.« Erneut versuchte sie aufzustehen, doch ihre zitternden Beine versagten ihr den Dienst. Tränen der Verzweiflung sah er in ihren Augen aufblitzen. Er kniete sich vor sie und redete mit sanfter Stimme auf sie ein, in der Hoffnung, sie zur Vernunft zu bringen. Wahrscheinlich befand sie sich in einem Schockzustand, befürchtete er. »Wo wollen Sie denn jetzt hin? Kann ich Sie vielleicht irgendwo hinbringen? … Auch wenn ich finde, dass Sie in ein Krankenhaus gehören.« »Danke, das ist echt nett von Ihnen, aber …« Sie brach ab und wischte sich mit dem Handrücken ihre Tränen weg. »Würden Sie mich bitte einfach allein lassen?« »Mein Auto steht gleich hier hinten auf dem Parkplatz. Ich werde Sie sicherlich nicht hier liegen lassen. Kann ich Sie vielleicht zu … zu einer Freundin fahren, oder so?« »Das geht nicht.« Nach einer kurzen Pause fügte sie leise hinzu: »Er würde mich überall finden.« »Sie müssen zur Polizei gehen. Da sind Sie vor diesem Kerl sicher!« Die junge Frau schüttelte müde mit dem Kopf. »Sie verstehen das nicht! … Beim nächsten Mal bin ich tot … Bitte lassen Sie mich einfach in Ruhe! Gehen Sie jetzt bitte nach Hause und leben Sie Ihr Leben!« Vollkommen perplex beobachtete Philipp, wie sie sich voller Entschlossenheit aufrichtete, als wenn sie ihren Beinen unmissverständlich klarmachen wollte, dass sie es nicht wagen sollten, ihr erneut den Dienst zu quittieren. Nur ihr schmerzverzerrtes Gesicht ließ erahnen, wie es tatsächlich in ihr aussah. Besorgt fing er ihren Blick auf. Aber sie wandte sich von ihm ab, angelte mühsam nach ihrer Handtasche, die irgendwo im Gebüsch verborgen lag, und machte schließlich einen Schritt weg von ihm. Plötzlich taumelte sie und versuchte mit rudernden Armen im letzten Moment irgendwo Halt zu finden. Bevor sie wieder im Gebüsch landete, fing Philipp sie auf. Ohne etwas zu sagen, hob er sie hoch und war für den Bruchteil einer Sekunde überrascht, wie leicht sie war. Sie leistete keinen Widerstand, sondern schien fast dankbar zu sein, als er sich mit ihr in Bewegung setzte und sie zurück zum Eingangstor trug. »Ich kann nicht ins Krankenhaus, die würden mir zu viele Fragen stellen. Und zur Polizei will ich auch nicht«, sagte sie bestimmt, und doch wirkte ihre Stimme kraftlos. »Habe ich schon verstanden. Und ich hoffe, du verstehst, dass ich dich hier irgendwie auch nicht stehen … beziehungsweise liegen lassen kann.« Ohne sie abzusetzen, tippte er an der Tür, die das Firmengelände vom Rest der Welt trennte, schnell die Zahlenkombination ein und öffnete mit der Chipkarte die Tür. Erst vor der Beifahrertür seines Wagens setzte er sie sanft ab und ließ sie auf den Sitz rutschen. »Ist das Ihr Auto?«, fragte sie mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme. »Nein, ist geklaut.« »Ach so.« Er traute seinen Ohren nicht und beugte sich zu ihr hinab, um in ihrem Gesicht zu lesen, ob ihre gleichgültige Reaktion gespielt oder ernst war. Er war sich nicht sicher. »Natürlich ist das mein Auto. Was denkst du denn?« »Welches Baujahr?« »1963. Du interessierst dich für Autos?«, fragte Philipp überrascht. »Nein, eigentlich nicht. Aber ich habe noch nie in so einem tollen alten Auto gesessen.« Gefühlvoll schloss er die Beifahrertür. Während er um den Wagen herumging, überschlugen sich seine Gedanken
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