„Wie bitte?“
„Von Nitschewo.“
Der Student lacht. Auch ich hätte vielleicht gelacht, wenn dieses bitterböse Gesicht nur eine Spur von Humor verraten hätte. Aber da war nichts – nitschewo. Mit einigen kräftigen Schlucken aus seiner Cola verschwand das letzte Pizzastück, und seine Äuglein funkeln noch genüsslich, als er weitere Tatsachen an-
führt.
Dieser Essener (er spuckt gegen seine eigene Tafel), der übrigens ein Enkel der Kleopatra, der alten Hure, war, sei selbst auch nur ein bezahltes, von Ägypten bezahltes Schwein gewesen. Gekreuzigt hat der sich schon gar nicht lassen, das wäre alles ägyptisches Lügentheater…
Was bedeutet ihm dieser Ischariot, das frage ich mich. Ist das sein Gott? Judas der Iskariote, Retter der Recht-
gläubigen und unser seltsamer Zeitgenosse sein Jünger:
Profet des Hasses gegen einen „Ungekreuzigten“ vor
Zweitausend Jahren?
Ein Uhr! Da verziehe ich mich unbelehrt. Doch auf dem Weg zum Cassius-Garten hätte ich beinah noch einmal kehrtgemacht. Warum hasst der so? Das hätte ich ihn jetzt gern gefragt. Im selben Moment kommt ein Radfahrer mir frontal entgegen – immerhin langsam genug, dass ich ausweichen kann. Blicke hat der nur für die Tische des Strassencafés linker Hand, die alle mit sonnebewussten Menschen besetzt sind. Plötzlich brüllt er los:
„Ich weiss, ich bin der wertloseste Mensch!!“
Ein Gesicht, so bleich wie schlafentzogen, verrät: etwas äusserst Bedeutsames hat er der Menge soeben offenbart. Und noch einmal, mit heftigem Deuten gegen die unfreiwilligen Zeugen: „Ich bin der wertloseste Mensch!“
Noch ein Profet! Profet eines Selbsthasses, nicht we- niger unerbittlich wie des Ostjuden vom Münsterplatz. Aber war es im Grunde nicht derselbe Hass?
Ich bin nicht noch einmal umgekehrt.
tens mir noch nicht passiert, drittens langweilig. Lang-
weilig? Jawohl: ohne Spannung klingt eine Gitarre nicht, ihre Saiten bleiben tonlos schlaff.
Ein Blick auf die Zeitansage im Handy ist natürlich erlaubt. Das Getränk mundet, vielleicht hole ich mir ein zweites Glas, inzwischen geht es auf Vierzehn Uhr zu.
„Tempus fugit – alle verwunden, die letzte tötet“, las man auf der grossen Standuhr im Haus meines Vaters. Das Läutwerk war dem Westminster-Schlag nachgebil- det, Jacques erzählte es jedem neuen Besucher aufs neue. Die Orange ist leider etwas unterkühlt, wir nähern uns Vierzehn Uhr Dreissig. Gewöhnlich in allen Kirch- dörfern der Eifel der Zeitpunkt einer Beerdigung. Plötz- lich erfasst mich brennende Sorge. Wenn ihr etwas zugestossen ist? Kaum eine Tagesschau, die nicht von einem Flugzeugabsturz zu berichten weiss. Rufe ich Re- magen an? Nicht im Handy, wohl im Notizbuch war die Nummer von Adams Villa anlässlich Magalouns Be- such vermerkt. Ich wähle die Nummer, eine männliche Stimme, ziemlich verschlafen, lässt sich vernehmen:
„Ja – was?“
„Entschuldigung – Frau Angelov, wir sind auf Mittag verabredet. Ist sie eventuell schon gestern gelandet? Ich dachte...“ Da schnarrt mir ins Ohr: „Und ich denke, Sie haben einen Namen.“
Ich schlucke ein paarmal, bemüht, keine Gereiztheit zu zeigen, zugleich besorgt wie ein Dessident: wem gebe ich da meinen Namen? Der Kerl kann günstigen- falls einer von Symons van Porsts Söhnen sein. Hatte nicht Magaloun sich stets ein wenig verlegen über ihre
Gastgeber geäussert? Ich setze wieder an und sage, als
hätte ich die Namensfrage überhört:
„Ich dachte nämlich…“ Aber sofort wieder unterbro- chen:
„Das Denken – wenn Sie schon kein Pferd sind –
sollte man seinem Computer überlassen.“
Und weg ist er. Und unmittelbar darauf fibriert das Handy in meiner Hand. Erschrocken lasse ich es auf den Tisch fallen. Es wieder ergreifend, höre ich ein kräftiges
„So doch!“, das mir nicht gelten kann. Aber jetzt, nach zweimaligem Drücken, lese ich eine Mail.
Ich übertrage diese lange Mail, sie ist es wert, ins Log- buch, und in Schönschrift.
geben – eine Spritze davon hätte einen ins Land der Se-
ligen befördert! Die Verbindung mit dem Schwefel hat es teilweise wieder neutralisiert. Nur einige Passagiere klagen noch über Brechreiz und Benommenheit.
Unsere Maschine bleibt vorerst am Boden. Der Ge- stank war wirklich infernalisch. Die meisten Passagiere werden noch heute Abend nach Deutschland geflogen. Die Mannschaft darf vorerst Wien geniessen – wie lange, und wann wir wieder eingesetzt werden, weiss man in dieser Zeit ja nie. Unser Erster hat etwas von Australien gehört – eine Mutmassung, weiter nichts. Alles Liebe, Magaloun.
Mahnmale dieser Art gehören nicht von Dr. Labalue
mir zugedachten Aufträgen. Hein van Vlodrop, ein alter Herr, den Robert Schuman seinen Freund nannte, wurde dieses Europa der Gräberfelder von Atlantikküste bis Wolgastrand, von Nordsee bis Mittelmeer zur Lebens- aufgabe. So viel ich erinnere und hier auch bestätigt finde: die Zahl der Gefallenen beider Kriege steht im genauen Verhältnis von Eins zu Drei – es dürfte für Deutschland die Regel sein. Frauennamen darunter ab
1944, Bombenopfer eines nahezu „totalen Krieges“. Am Markt Tische und Stühle vor jedem Restaurant
oder Café. Nach einem Rundgang finde ich noch einen Tisch unbesetzt und bestelle bei der sehr jungen Kell- nerin im Dirndl-Kleid ein Kännchen Schokolade. Nun kann ich die Fortsetzung, den Schluss für Annie in Montmorency auf einer Bildpostkarte schreiben – auf Moby Dick, dem Ausflugsdampfer, nachgeformt dem Walfisch, auf den er getauft ist.
„Ohne Gangseil und einer fünfzigjährigen Geige hätte ich mich nicht so lange in Josephs Reich verlaufen – eher hätte ich August Macke einen Besuch abgestattet, der, wie Sie wissen, von sich selber sagte, dass er
„die Dinge durchfreuen“ wollte. Ohne Gangseil? Aber nein! Macke besass es vor vielen andern. Herzlichst, Ihr Holger.“
tion, nicht zuletzt in meiner Branche…“ Sein Betrieb
scheint ein Zulieferant von Ford in Köln zu sein, und mit „neuer Generation“ meint er natürlich die Computer und nicht die Menschen, die sie künftig handhaben sol- len. Aber wie früh schon gab es eine Menge Leute in Europa, die klar und ohne Abstrich wünschten, was, wie aus dem Auge des Zyklons über einer Wüste gespro- chen, stellvertretend ein New Yorker dann behaupten sollte: „Ich möchte eine Maschine sein.“
Im Schaufenster eines Bonner Buchladens: „Die krea- tive Kraft der Maschine“.
Der Wahn verspricht Methode. Da kommt einem nicht im Traum mehr (käme sie, dann mit den Bildern eines Hieronymus Boschchen Albtraums) die Frage: wo blieb meine Seele („wanderndes, blasses, frierendes Seel- chen“: animula vagula, blandula, pallidula, rigida, nu- dula)? Millionen hocken wie in Raumkapseln vor ihren Geräten mit ihren Hundert Windows, gleich fern von Himmel und Erde, gleich fern!
Aber ein wie Kaspar Gefangener, Sigismund in Hof- mannsthals T urm (und er wird nicht der letzte Kaspar Hauser gewesen sein): „meine Seele ist heilig...“
Was Magaloun nach ihrem Besuch in Symons van Porsts, des bekannten Reeders Rheinvilla, von seinem Sohn Pieter berichtete: Pieter liebt Blumen. In seiner mit Apparaten auf drei Tischen bestückten Kammer sah Magaloun kleine und grössere Kakteen jeder Art. Zum Verwundern war’s ihr, auch einige heimische Topfblu- men auf der schmalen Fensterbank zu sehen. Diese Blümchen standen dem Licht am nächsten und waren alle im Zustand des halb oder ganz Verwelktseins. Ge-
wiss, sie brauchten etwas mehr Pflege als seine Wüs-
tenpflanzen. Als Magaloun bemerkte: „Denen fehlt
Wasser,“ erwiederte der gute Junge ziemlich unwirsch:
„Ach die! Die schmeiss ich raus.“-
Und Jan – später würde Magaloun mir auch von ihm, dem um drei Jahre jüngeren, erzählen. Da hatte seine Mutter ihn gerade aus Pieters Händen in Empfang ge- nommen als Urne. Hier nur sofern auf ihn als den Täter des Datums 7.12.1941 vor der Villa beim Turm schlies- sen lässt.
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