Nett hat er ausgesehen, sympathisch, doch, hatte etwas von einem alten Baum, und ich lache, denke, dass er das nicht gerne hören würde; seine Ausstrahlung natürlich, das Gesicht eher kantig, nicht unedel. Hat Motta nicht was von Lord gesagt? Ja, ja, der eine heisst Prince, der andere Lord, und durch die Kurven der Anchieta fahre ich dem Meer entgegen, weit über die Ebene von Santos hinaus geht der Blick, lässt einen Schimmer von Blau in Blau erkennen, und ich denke, dass der Gringo kein Amerikaner war.
Ja, ja, konzentrier dich auf die Strasse, auf die Lastwagen, die dreissig fahren, von einem anderen mit fünfunddreissig überholt werden. Ich kenne das, habe das schon gemacht, bin bald unten, da kommen sie von allen Seiten; vergiss die Bodenmarkierungen, die sind falsch, das habe ich ihm noch gesagt, gut; und ich bin eingekreist, eingenebelt, es stinkt atemberaubend, aber ich kann das Steuer jetzt nicht loslassen, das Fenster nicht hochkurbeln, ich muss mich konzentrieren, mir die ekligen Dämpfe reinziehen, kann das, habe das schon überlebt, mehrere Male sogar, vorne rechts ist die Ausfahrt; und ich stelle den Blinker, sehe die Lücke, reduziere, gebe Gas, es reicht, nicht allzu knapp, die richtige Ausfahrt war es auch, Cubatão liegt neben mir, und ich kann endlich das Fenster hochkurbeln, aufatmen, der Verkehr hat nachgelassen, kann nach den Baumskeletten Ausschau halten, nachsehen, ob es mehr geworden sind. Öliggelb fällt der Regen in Cubatão und immer wieder ungläubig staune ich die Pflanzen an, die da trotzdem wachsen, die aufgeworfenen Hügel entlang der Autobahn überziehen, biege endlich ab, öffne das Fenster, atme ein, atme durch, fahre hinein in das Grün, das nur die Paarung von Glut und Regen im Schoss der roten Erde hervorbringen kann.
„Mami, du bist da, ich bin so froh, bist du da“, und ich gehe in die Knie, werde umarmt, küsse, umarme, lasse mich einspinnen in ihre Geschichten vom Käfer im Badezimmer und Max reisst die Augen auf, weil er so riesig war, der Kakerlak; begrüsse die Familie, bedanke mich fürs Kinderhüten und ein Schwall von Ratschlägen, Vorwürfen, Ideen, wie man es besser machen könnte, „diese Schreie, also wenn das mein Kind wäre, und er beisst!“, prasseln augenblicklich auf mich nieder; und ich lasse mich wegzerren, „Mami komm endlich, wir wollen zum Strand, ihr könnt nachher schwatzen“, lasse mich entführen durch das Schattenlicht der Bäume hinunter zum Meer.
„Du lässt dich tyrannisieren von deinen Kindern.“ „Wieso, weil ich ihnen eine Gutenachtgeschichte erzähle?“ Keinen Streit, komm, lass sie reden, wovon sie nichts versteht, es ist unwichtig, und still verlässt meine Schwiegermutter den Raum, schliesst leise die Tür. „Jetzt hat sie schon wieder geheult. Ich finde das unerträglich, sie sollte endlich darüber wegkommen.“ „Sie hat doch ein Kind verloren. Wie soll sie je darüber wegkommen?“ Dumme Kuh, warum versteht sie nicht!? „Bei dir ist es ja ziemlich schnell gegangen, Viktoria. Du siehst gut aus“, und ich möchte sie würgen, ohrfeigen, ihr das Gesicht zerkratzen, dieser miesen, muffigen Grossstadtschlampe, schlucke alles runter, erspare uns den Krieg; „ja, ich hab mich ausgeweint. Gute Nacht.“ Morgen fahren sie weg, graças a Deus, werden ihren Kummer wieder mitnehmen, morgen kommt Malu mit ihrer Bande, Sé mit der seinen .
Er besucht uns, wie nett, scheint sich wohl zu fühlen, mag unsere Mischung. Sé mag er besonders. Sie müssen etwas gemeinsam haben; und ich schaue ihn mir an, wie er da Geschichten erzählt von Löwen, er sich kurzerhand entschloss, den Kampf für Portugal Profis zu überlassen, als er Nachts auf Wache ihr Gebrüll gehört, sich fast in die Hose gemacht hatte. „Nicht ein einziger Baum, auf den man hätte klettern können, queridos , nur Dunkelheit, dieses grausige Brüllen“; und unweigerlich kommen sie auf den brasilianischen Löwen, lassen keine Gelegenheit aus, um über die Krise zu sprechen, die Regierung und ihre Schweinereien. Als ob das jemals anders gewesen wäre; und ich erinnere mich an den ersten Plano économico, den zweiten und dritten, an die Diskussionen, die wir hatten, als sie den Analphabeten das Stimmrecht gaben, es Demokratie nannten; wie sie Henrique als Funktionär im Wahlbüro aufgeboten hatten und der Doutô andauernd gefragt worden war, wo man denn jetzt das Kreuz machen müsse. Stimmen ist Pflicht, und das Nichtbefolgen zieht ernsthafte Scherereien mit einem Departement der Sicherheit nach sich.
Vielleicht war es einmal anders, vor langer Zeit, vor meiner Zeit. Für mich war es immer schon so, nur Fábio, Fábio ist nicht der Selbe, will mir an den Kragen, lauert schon lange; und dann renne ich durch die Küche, stosse die Hintertür auf, renne ums Haus, durch den Garten; hör auf zu rennen, du kannst nicht den ganzen Weg bis zum Strand rennen, hüpfe, ai, filho de uma cadela vadía, marschiere. Selber schuld. Nein! Er ist Gast in meinem Haus und er hat mich blossstellen wollen, weil er eifersüchtig ist, weil ich zu haben bin. Arschloch! Mieses, fettes, gemeines, besoffenes Arschloch! Selber schuld. Ja; und ich setze mich in den Sand, schaue hinein in das sich wiegende Silber des Mondes, schaue hinauf, suche nach dem Kreuz des Südens, finde so viele Kreuze am Himmel. Spielt es denn eine Rolle, was er denkt? Was er nicht denkt? Und ich lasse mich treiben, hinauf zu den Sternen, hinunter bis auf den Grund des Meeres, hinüber, zurück in den Osten, weiss einmal mehr nicht so recht, wo ich hingehöre.
Vielleicht geht er jetzt auch. Vielleicht sollte ich ihn bitten zu gehen. Ach was, der ist alt genug, der kann machen was er will; er will nach Maresias und heute Abend kommen Ana, die Mädchen, Alzira, mit Luiz wird er sich gut verstehen, und ich schaue hinaus aufs Meer, hinüber zur Serra . Es wird regnen, später, wie fast jeden Nachmittag, lehne mich zurück, lasse mich von der Sonne bescheinen, lasse Bilder von meiner Nonna aufsteigen, wie sie morgens ohne Zähne aufwachte, ich mich weigerte, Anweisungen einer zahnlosen Alten zu befolgen; sehe mich Schlittschuhlaufen auf der Eisbahn im Dorf meiner Grossmutter, mich verabreden für den nächsten Tag, Samstag, am Montag fängt die Schule wieder an; und ich höre die Stimme meines Bruders am Telefon, die mich nach Hause befiehlt, höre mich streiten, weil er diesen Ton älterer Brüder drauf hat, weil ich Schlittschuhlaufen will, höre die Schreie meiner Mutter, sehe mich im Zug, auf dem Weg ins Spital und Verzweiflung drückt mir die Luft ab. Was soll ich den Leuten am Empfang denn sagen? Ich weiss doch nicht einmal, wo er liegt, in welchem Zimmer. Was soll ich denn bloss sagen?!
Und ich renne durch den Sand, tauche ein, die Welle rollt über mich hinweg, tauche dem Grund entlang, spüre ihren Sog, tauche auf, und wie kühle Seide, weicher Samt ist das Wasser auf meiner Haut. Warum bist du fort gegangen? Warum hast du mich verlassen, alles mitgenommen, mir nur Angst gelassen? Und ich spüre die Kraft des Wassers, weg vom Strand fliesst es, zurück in den Ozean, doch dann hebt sie mich empor, nimmt mich mit, trägt mich zurück an Land, bringt mich in Sicherheit.
„Gefällt er dir?“ „Wie meinst du? Als Mann?“ „Nein, Vicky, als Bohnentopf.“ „Vielleicht hast du ja als Mensch gemeint.“ Mit dem Geschirrtuch schlägt sie nach mir, hat Mann gemeint, weil das auch Menschen sind, falls ich das vergessen haben sollte, und ich hänsle sie mit ihrer Vorliebe für den europäischen Typus. „Komm, sei ernsthaft. Du gefällst ihm nämlich.“ „Als Frau?“ „Unbedingt. Am Strand hat er mehr als ein Auge auf dich.“ „Auf dich auch, querida . Er ist sich unsere Bademode nicht gewöhnt.“ „Du hast ‚unsere’ gesagt, Vicky.“ Mit ihren leuchtenden Augen sieht sie mich an, streichelt meine Wange, „ich mag es, wenn du vergisst, dass du eine Gringa bist.“
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