»Woher wollt Ihr das wissen, Schwester?«, hinterfragte Jean de Cluny mit stark französischem Akzent nach einem Moment der Überraschung Albertas Aussage.
»Ich bin zwar alt, aber nicht dumm, Pater«, entrüstete sich die Alte beleidigt.
»Hab‘ Dank für deine Hilfe, Schwester«, beschwichtigte Gelenius. »Wir werden deine Worte wohl überlegt bei unserer Untersuchung berücksichtigen. Doch jetzt müssen wir weiter!«
Auf seinen Wink hin setzte die Äbtissin den Weg mit versteinerter Miene fort, während ihr der Generalvikar und die anderen folgten.
Sorgenvoll blickte die Oberin drein, als sie mit den hohen Herren im Gefolge die Klosterzelle betrat, in der man Lucia isoliert hatte. Schwester Franziska saß neben der Novizin auf der Bettkante und betete.
»Sie schläft jetzt ruhig«, erklärte sie den Anwesenden, nachdem sich der Generalvikar nach dem Befinden der Novizin erkundigt hatte.
»Gut, Schwester. Dann lass uns jetzt allein, damit wir mit der Untersuchung beginnen können«, forderte Gelenius sie auf, die Zelle zu verlassen. Die Nonne zögerte.
»Meint Ihr nicht, ich könnte vielleicht von Nutzen sein, hochwürdigster Generalvikar?«, fragte Schwester Franziska.
»Ich wüsste nicht, warum«, entgegnete Johannes Gelenius ungehalten.
»Aber bedenkt doch, sie ist eine Frau«, warf Franziska ein. Die überraschten Würdenträger warfen ihr erboste Blicke zu.
»Sei unbesorgt, Franziska«, griff jetzt die Äbtissin ein, um die eskalierende Situation zu retten. »Die Herren sind allesamt erfahrene personae , du kannst beruhigt sein.«
»Wie Ihr wünscht, Mutter Oberin!« Schwester Franziska bekreuzigte sich und verließ die Zelle.
»Doktorius Schorn, würdet Ihr mit der medizinischen Untersuchung beginnen?« Der Arzt, ein kleiner rundlicher Mann mit Glatze, blickte den Generalvikar zustimmend an. Der gefährliche Unterton in Gelenius’ liebenswürdigen Worten war ihm nicht entgangen. Bereits auf dem Weg ins Kloster hatte ihm der Generalvikar unmissverständlich klargemacht, dass er schnelle Ergebnisse erwarte, die wiederum den Cöllner Erzbischof und Churfürsten Ferdinand von Wittelsbach zufriedenstellen müssten.
»Wir, wir müssen sie entkleiden«, unsicher schaute er zur Äbtissin.
»Ich werde Euch helfen, Doktor!« Die Äbtissin löste die Fesseln, die Lucia ans Lager fesselten, und entkleidete die angehende Nonne.
Als Doktor Schorn der Novizin den Leib abtastete, stöhnte die junge Frau vernehmlich, dann bäumte sie sich urplötzlich auf, ihr Gesicht verzerrte sich, die Augen quollen vor und aus ihrem Mund kamen unverständliche, gurgelnde Laute. Schließlich erbrach sie grünliche Galle. Dann fiel sie erschöpft zurück.
»Heilige Mutter Gottes«, murmelte einer der beiden Geistlichen und bekreuzigte sich.
»Mutter Oberin, wisst Ihr, was die Ärmste zuletzt gegessen hat?«
»Getreidebrei, so wie wir alle. Warum wollt Ihr das wissen?«
Der Arzt ergriff Lucias Hand und tastete die Finger ab.
»Schwester Lucia, spürt Ihr das?«, fragte er schließlich die Novizin.
»Nnnnnneiiiiiin«, kam schwer die Antwort, ehe die junge Frau sich wieder vor schrecklichen Schmerzen krümmte und ihr gepeinigter Körper sich erneut aufbäumte. Nur mit Mühe konnte der Arzt sie mit Liborius’ Hilfe auf das Bett niederdrücken.
Doktor Schorn tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
»Warum habt Ihr der Schwester die Finger untersucht?«, fragte Pater Cluny.
»Ich bin mir nicht sicher, sie könnte an einer Vergiftung leiden.«
»Was heißt das?«, fauchte Gelenius nervös.
»Ihre Finger sind taub, dann die Krämpfe in Darm und Unterleib. Das alles sind Symptome für das Antoniusfeuer. Ich müsste das Korn sehen, das man für die Zubereitung des Breis verwendet hat.«
»Aber das ist blanker Unsinn«, meldete sich jetzt Hochwürden Binz zu Wort. »Dann müssten doch alle Nonnen im Kloster davon betroffen sein. Schließlich sagte die Oberin aus, dass alle den Getreidebrei gegessen haben.«
»Es könnte sich auch um eine gezielte Vergiftung handeln«, erklärte Schorn weiter.
»Sehr abwegig, Eure Behauptung, Doktor. Das würde bedeuten, dass jemand der Novizin nach dem Leben trachtet. Kaum zu glauben! Wer sollte das sein und welches Motiv könnte der- oder diejenige in diesem Kloster haben?«, stellte der Generalvikar die Aussage des Arztes in Frage.
»Vielleicht ist es auch nur ein geschickter Schachzug Satans«, resümierte Pater Liborius. »Der Dämon will Verwirrung stiften, um von sich abzulenken. Der Doktor sollte vorsorglich die Küche untersuchen. Vielleicht ist es ja tatsächlich ein Giftanschlag. Ich werde indessen den Dämon beschwören, der möglicherweise Besitz von ihr ergriffen hat. Dämonen sind verschlagene Ausgeburten der Hölle. Möglich, dass er sogar für einen Giftanschlag verantwortlich ist«, stellte der französische Dominikaner fest.
»Ihr wollt doch wohl nicht einen Exorzismus durchführen?«, fragte die Äbtissin erschrocken.
»Die einzige Möglichkeit, werte Schwester, den Dämon zu zwingen, sein wahres Gesicht zu zeigen«, erklärte Pater Liborius.
»Gut, Pater, dann beginnt damit. Wir haben schließlich alles dabei, Weihwasser und Kruzifixe. Dann wird sich herausstellen, ob wir es mit einer Infestation eines Dämons, Wahnvorstellungen oder vielleicht einer Vergiftung zu tun haben. Doktor Schorn, geht und untersucht die Nahrungsmittel in der Küche! Ihr, Oberin, solltet ihm dabei helfen. Hier sollten sich von jetzt an nur noch personae aufhalten, die mit dem Ritual des Exorzismus vertraut sind und Pater Liborius unterstützen können im Kampf gegen die satanischen Mächte.«
Mit einer Handbewegung, die keinen Widerspruch duldete, gebot der Generalvikar der Äbtissin und Petrus Schorn zu gehen.
»Wie Ihr wünscht, hochwürdigster Generalvikar«, bemerkte die Oberin bissig und verließ, gefolgt von Doktor Schorn, die Kammer.
*
2.2 Sophias Visionen
Nachdenklich saß der Jesuit Maurus van Leuven an seinem Schreibpult und betrachtete die darauf ausgebreiteten Unterlagen, seine Aufzeichnungen über Sophias Visionen. Sophia Agnes von Langenberg, eine Nonne des Kloster Sankt Clara zu Cölln, die man der Hexerei bezichtigte. Pater Maurus war einer der Wenigen, die sie regelmäßig in ihrem Gefängnis auf der churfürstlichen Burg in Lechenich besuchen durften. Er war einer ihrer Beichtväter und gleichzeitig ein Spion ihrer Jäger, denn stets musste er nach ihrer Beichte einen Bericht für Generalvikar Johannes Gelenius abfassen. Er hasste sich dafür, den Anordnungen der kirchlichen Obrigkeit entsprechen zu müssen. War das Beichtgeheimnis nichts mehr wert? Warum widersetzte er sich nicht einfach?
Dabei hatte alles ganz harmlos begonnen. Im Sommer 1621 befiel Sophia plötzlich eine unerklärliche Krankheit. Heftige Fieberschübe schüttelten ihren Körper, mergelten ihn so sehr aus, dass sie mit dem Engel des Todes rang. In dieser Zeit hatte sie göttliche Visionen. In den Aufzeichnungen des sie betreuenden Franziskanerpaters schilderte sie Jenseitsreisen, während derer Jesus Christus selbst ihr geboten habe, in das irdische Leben zurückzukehren, um seine Botschaft zu verkünden. Dafür solle sie geduldig leiden für die Sünden der Welt und der christlichen Kirche, ihr Kreuz aufnehmen und ihm, dem HERRN, nachfolgen. Dafür wolle er ihren Gebeten für ihre Nächsten entsprechen, was schon bald nach ihrer Genesung geschah. Auf ihre Fürbitten hin wurde eine andere Nonne von der Sankt Vinzenzklause zu Cölln von einem schweren Beinleiden geheilt. Schnell sprach sich das Wunder in der Bevölkerung herum, ebenso ihre mahnenden Predigten über das Versagen der Kirchenoberen. Man verehrte Sophia alsbald als lebende Heilige. Ein Übriges tat das Mirakel eines blutenden Kruzifixes in ihrer Klosterzelle am 27. März, dem Ostersonntag 1622. Trotz eines Verbots durch den päpstlichen Nuntius Pietro Francesco Montoro, das Wunder öffentlich zu machen, sprach es sich in Windeseile in Cölln und darüber hinaus herum.
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