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Gästetrakt, Palast von Coudenberg, Brüssel, im November 1626
Er schlug die Augen auf. Für einen Moment blieb er reglos liegen, um dem rot wallenden Nebel vor seinen Augen die Chance zu geben, sich aufzulösen. Matthias fühlte, wie sein Hemd vom Schweiß durchtränkt am Leibe klebte.
Mühsam richtete er sich auf, ließ seine Füße vom Bett auf den kalten Dielenboden sinken, erhob sich und wankte zum Spiegel über der Kommode mit der Waschschüssel.
Seine Augen hatten tiefe Ränder, wirkten übernächtigt und entzündet. Seit Tagen hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Zu groß war seine Sorge um Carmen, die Frau, die sein Herz begehrte, die sich aber in den Fängen der spanischen Inquisition befand. Carmen, jene Schönheit mit den sanften dunklen Augen und dem braunen Haar, das in der Sonne rötlich glänzte. Wie es ihr jetzt wohl erging?
Matthias schüttete aus dem bereitstehenden Krug Wasser in die Waschschüssel, tauchte die Hände hinein und wusch sich sein Gesicht. Wieder betrachtete er sich im Spiegel. Seine Haut wirkte grau, so wie sein inzwischen schütteres Haupthaar.
Die Träume der letzten Tage zehrten zusätzlich an seinen Kräften, lagen wie ein dumpfer endloser Schmerz in seinem Bewusstsein, der kein Ende zu nehmen schien. Kein Ende! Auch dieser Traum hatte wieder kein richtiges Ende. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück an jene Zeit, als bei den Benediktinern auf dem Michaelsberg zu Siegburg lebte. Es war wohl in den Jahren 1590 bis 1594. Er erinnerte sich an Magister Martin, der ihm ein väterlicher Freund war, wenn auch der Benediktiner nie Matthias’ Eltern ersetzen konnte, die ihm der Krieg genommen hatte.
Er erinnerte sich auch an die anderen Kinder, Novizen, die wie er auf dem Michaelsberg lebten. Doch fehlte ihm die Erinnerung an gemeinsame Spiele völlig. Hatte er jemals mit ihnen gespielt? Hatte es dafür überhaupt Zeit gegeben? Matthias erinnerte sich nur daran, dass Magister Martin ihn recht schnell nach Trier brachte. Trier! Zu seiner Verwunderung erinnerte er sich an diese Zeit sehr gut. Aber warum nicht an Siegburg? Und was hatte dieser schreckliche Alptraum zu bedeuten? Namen, aber keine Gesichter! Georg und Lambert, er hatte keine Erinnerung an die beiden. Vielleicht sollte er noch einmal die Abtei besuchen und versuchen, dort oben auf dem Michaelsberg die Antworten auf seine Fragen zu finden.
Er besann sich wieder auf das Hier und Jetzt. Er war in Brüssel zu Gast in der Residenz der Statthalterin der spanischen Niederlande. Carmen war einst Hofdame der Infantin von Spanien und Portugal, Isabella Clara Eugenia.
Matthias hatte sie nach seiner Ankunft in Brüssel gebeten, in Carmens Angelegenheit zu intervenieren, ihren Neffen, König Philipp IV. von Spanien, zu bitten, das Inquisitionsverfahren gegen Carmen einzustellen. Er hatte vor der Infantin niedergekniet, ihr sogar im Gegenzug angeboten, in ihre Dienste zu treten, so wie sie es bereits vor einigen Jahren von ihm gewünscht hatte, damals, als die Holländer Bonn beherrschten und ihre Schreckensherrschaft von der Festung Pfaffenmütze ausübten. Damals hatte die Infantin General Spinola mit einer 12.000 Mann starken Armee in Marsch gesetzt, um Churfürst Ferdinand von Cölln zu Hilfe zu eilen. Für die Diplomatie war damals Carmen de Silva zuständig, ihre Hofdame, die Matthias bei einem Fest am Hofe zu Brüssel kennen gelernt hatte.
»Wir werden die Sache überdenken und zu einer wohlweislichen Entscheidung kommen. Bis dahin bitten wir, dass Ihr Euch als unseren Gast betrachtet«, hatte die Infantin Matthias geantwortet. Dabei war ihr Gesicht regungslos geblieben, wirkte eher streng.
Jetzt warteten er und Roger de Puivert, der französische Ritter und Gefolgsmann Carmens, schon seit zwanzig Tagen auf die Entscheidung der Infantin.
Matthias ging zum Tisch und entzündete eine Tranlampe, deren Flamme mehr Licht spendete als die heruntergebrannte Kerze. Schließlich legte er ein paar Scheite auf die Glut im Kamin, die schnell knisternd aufloderten und das Zimmer zusätzlich erhellten.
Auf dem kleinen Tisch gegenüber der Kommode standen ein Krug Wein und ein Becher. Der Anwalt und churcöllnische Commissarius schenkte sich ein, verdünnte den Trunk aber mit Wasser. Schließlich trat er ans Fenster und schaute hinaus in die kalte Novembernacht. Der Himmel war klar, aber nur wenige Sterne erleuchteten das Firmament. Auf den laublosen Bäumen, den Sträuchern und Wiesen vor der Residenz glitzerte Raureif, der die Umgebung in eine unwirtliche Atmosphäre tauchte.
Während er in die Dunkelheit sah, wanderten seine Gedanken zurück nach San Juan de la Peña, wo er mit Carmen und ihren Caballeros den letzten Jahreswechsel verbracht hatten, nachdem sie gemeinsam in einem gefahrvollen Abenteuer einen Mörder und Dieb zur Strecke gebracht hatten. Er dachte an ihren Besuch in Bonn im vergangenen Frühjahr, an die wunderbare gemeinsame Zeit.
Aber all das war in diesem Augenblick unwichtig, angesichts der Gefahr, die Carmen drohte: Folter und Verurteilung, vielleicht sogar der Tod. Man warf ihr Häresie und Hexerei vor, wie er erfahren hatte. Was war nur in den letzten Monaten geschehen?
Ein Klopfen an der Tür ließ Matthias seine trüben Gedanken für einen kurzen Augenblick vergessen.
»Ja bitte!«
Die Tür öffnete sich und Roger de Puivert trat ein.
»Verzeiht, Commissarius, aber ich sah noch Licht in Eurem Zimmer und dachte ...«
Matthias lächelte mild.
»Ist schon gut, Roger. Das ewige Warten lässt auch Euch nicht ruhen, nicht wahr?«
Der Franzose nickte.
»Kommt, lasst uns gemeinsam einen Becher Wein trinken. Vielleicht hilft das gegen den Schmerz über unsere Hilflosigkeit.«
Matthias schenkte Roger de Puivert einen Becher Wein ein und die beiden Männer stießen wortlos miteinander an. Keinem der Beiden war im Augenblick nach einem Trunkspruch.
»Was machen wir, wenn die Infantin Eure Bitte ablehnt?«, unterbrach der Franzose das triste Schweigen.
»Das weiß Gott allein, mein Freund. Dann möge der Himmel Carmens Seele gnädig sein«, meinte Matthias und dachte wieder besorgt an die Condesa.
Erneut klopfte es, ungehalten über die Störung riss Matthias die Tür auf. Ein Bediensteter blickte ihn erschrocken an, richtete dann aber nach einem ehrerbietenden Gruß die folgende Einladung aus:
»Ihre königliche Hoheit, die Infantin von Spanien und Portugal, Isabella Clara Eugenia, erwartet Euch morgen früh um Neun Uhr in ihrem Audienzsaal.« Mit einer Handbewegung entließ Matthias den Mann und blickte zu de Puivert.
»Endlich!«, stellte er dann fest. »Das Warten hat ein Ende.«
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1.2 Die Infantin
Im Audienzzimmer, Palast von Coudenberg, Brüssel
Isabella Clara Eugenia von Österreich, Infantin von Spanien und Portugal, saß auf einem roten Samtstuhl mit dicken Eichenarmlehnen, als sie Matthias und Roger de Puivert empfing.
Sie trug ein schwarzes, hochgeschlossenes Seidenkleid mit weißer Spitzenhalskrause, das spanischer Mode entsprach. Ihr rotes Haar war hochgesteckt und mit einem perlen- und edelsteinverzierten Diadem geschmückt.
Die Gesichtszüge der Infantin wirkten trotz ihrer sechzig Jahre weich und jugendlich. Ihre Brust zierte eine Amtskette und das Collane eines Ritters vom Orden vom Goldenen Vlies.
Matthias bewunderte insgeheim ihre Schönheit, wenngleich er sich fragte, woher die makellose Farbe ihres Haars herrührte. Seines war schon grau meliert und das anderer Frauen in diesem Alter bereits in Ehren ergraut.
Außer der Infantin befanden sich ein Sekretär und einige mit Hellebarden bewaffnete Wachsoldaten im Raum. Isabella von Österreich winkte die beiden Männer heran und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen.
»Commissarius Liebknecht! Wir haben Euer Anliegen sorgsam überdacht und Eure damit verbundene Bitte reiflich geprüft«, begann sie mit einer sanften ruhigen Stimme, die dennoch jeden Winkel und jedes Ohr im Audienzzimmer erreichte. »Carmen de Silva war mir stets eine loyale und zuverlässige Hofdame. Ihr Ausscheiden aus meinen Diensten vor drei Jahren habe ich sehr bedauert. Dennoch konnte ich ihre Beweggründe sehr gut verstehen.«
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