1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 „Tomas?“
„Ja?“
„Gerade lief eine männliche Person an mir vorbei, die ich vorhin unter den Schaulustigen gesehen hatte.“
„Und?“
„Jetzt löst sie Unbehagen in mir aus“, flüsterte er.
„Ah ja, äh, mach jetzt bloß keine Alleingänge. Hast du gehört?“
„Ja.“
„Sei bitte vorsichtig“, fuhr Tomas fort, „sobald ich weitere Indizien habe, rufe ich wieder an. Ansonsten heute Abend im Hofbräuhaus.“
„Warum ist mir der Typ nicht vorhin schon aufgefallen?“ Diese Frage musste sich Borchardt unbedingt gefallen lassen, denn der Typ war auffällig. Einer von diesen mit Anabolika aufgeblasenen Extrem-Bodybuildern, die sich in der Berliner Rocker- und Zuhälterszene aufhalten. Groß, Glatze, Bundeswehrhose, verspanntes leicht rötliches Gesicht, einfach nur angsteinflößend.
Der Typ verharrte auf dem Spree-Weg Richtung Friedrichstraße. Ein Segen war dieser Teil Berlins vollgestopft mit Touristen, sodass Borchardt zumindest bis auf Weiteres ein unauffälliger Verfolger sein konnte, ohne Tomas gegenüber ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Sein Schritttempo verriet, dass der Typ ein ganz bestimmtes Ziel anstrebte. Auf jeden Fall machte er keinen Spaziergang.
Wenn man einen Menschen fixiert beziehungsweise lange genug beobachtet oder sich generell mit ihm auseinandersetzt, dann gelangt man an einen Punkt, an dem sich ein Rapport mit dessen Gedanken- und Gefühlswelt aufbaut. Man taucht sozusagen in seine mentale und emotionale Atmosphäre ein. Ein wichtiges Prinzip, das Borchardt nur zu gut aus der Therapie kannte und dessen Tragweite er bei allen zwischenmenschlichen Beziehungen anwandte. Dieser Bodybuilder löste in Borchardt dasselbe Gefühl aus, welches er am Morgen bei der Tatortbesichtigung hatte! War er tatsächlich schon auf einer heißen Fährte? So schnell?
Immer wieder unterbrach Borchardt den Blickkontakt, um ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er eine klare körperliche Wahrnehmung spürte, eine Wahrnehmung, die man mit einem zarten Druck an einer bestimmten Körperstelle, zumeist ist es der Rücken, beschreiben kann, die ihn veranlasste, sich unbewusst umzudrehen, um dann festzustellen, dass ihn jemand beobachtet oder einfach nur angeschaut hatte. Und Borchardt wusste, dass das uneingeschränkt auf alle Menschen zutraf und dass, je länger man eine Person anschaut, der als physischer Druck empfundene Impuls, sich umzudrehen, stärker wird.
Versteinert und mechanisch lief der Typ weiter den Spreeweg entlang. Keinen Blick nach links, keinen nach rechts. Er schien auch keinen Schimmer davon zu haben, verfolgt zu werden. An der Friedrichstraße bog er links Richtung Bahnhof Friedrichstraße ab. Ganze Menschenmassen kamen entgegen. Regelmäßig tauchte er in ihnen unter, sodass Borchardt sein Schritttempo und seine Laufrichtung immer wieder aufs Neue anpassen musste. Mehrere Touristenbusse parkten an der Straße.
Borchardt fragte sich, wie die Stadt wohl aussehen würde, würde man ihr auf einen Schlag alle Touristen wegnehmen? So sehr er die City Ost auch liebte, so sehr konnten ihn die Menschenmassen auch aufwühlen. Seine Gedanken wanderten zu seiner Casa in Puerto de Mogán. Wie ruhig und besonnen dieser idyllische Hafenort im Südwesten Gran Canarias doch war. Auch wenn das einstige Fischerdorf bereits vom Tourismus erschlossen worden ist, so war es dennoch eine erholsame Oase für ihn. Sein Häuschen lag am westlich gelegenen Berghang der Bucht, und von seinem Arbeitszimmer aus hatte er einen traumhaften Blick auf das endlose Meer.
Der Typ erhöhte plötzlich sein Tempo und riss Borchardt aus seinem Tagtraum. Dann verschwand er rechts im Treppenaufgang zum Bahnhofsinnengelände.
Borchardt rannte los und spurtete aufgeregt denselben Aufgang hinauf. Der Bahnhof Friedrichstraße war rappelvoll. Hunderte Menschen, die hektische und teils chaotische Stimmungen erzeugten. Alle hatten sie es eilig und wirkten gehetzt.
„Wo ist der Typ?“
Der Bahnhof hat eine Ost-West und eine Nord-Süd S-Bahn Verbindung, eine Ost-West Fernverkehr Verbindung und eine U-Bahn; mindestens ein Dutzend Geschäfte und Fast Food Restaurants sowie sechs Zugänge aus allen Himmelsrichtungen. Der Typ konnte also überall sein.
Borchardt versuchte sich zu konzentrieren, was ihm schwerfiel, denn er fühlte sich nach wie vor ermüdet und schlapp. Oder sollte er lieber abbrechen? War das vielleicht ein Zeichen, eine kosmische Warnung, dass er sich in Gefahr begäbe, die ihn in eine ähnliche Situation katapultieren könnte wie die damals während der Fahndung nach dem Schlitzer, in dessen Fänge er geraten war? Oder war der Muskelprotz gar nicht verschwunden, sondern beobachtete ihn? Hatte Borchardt die Grenze des Jemanden-beobachten überschritten und der Typ wusste die ganze Zeit, dass er verfolgt wurde?
Langsam drehte er sich im Kreise und beobachtete den gesamten Bahnhof, insbesondere die Ecken und ruhigeren Punkte. Nichts, kein Glatzkopf, gar nichts.
Borchardt wurde ambivalent. Er fühlte sich in seine lebensmüde Zeit nach Nadines Tod zurückversetzt. Welchen Streich seine Gefühle ihm auch spielten, er musste sich jetzt zusammenreißen, und obwohl die Zeit rannte, schloss er seine Augen, stellte die Frage: „Wo ist der Bodybuilder?“ und öffnete sie wieder.
Borchardt konnte nie genau vorhersagen, auf welche Art Wahrnehmungsveränderung er stoßen würde. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sich sein Navi stets der individuellen Situation anpasste. Diesmal war Borchardt wieder im Slow-Motion-Modus. Alles bewegte sich sehr langsam, fast schon kriechend. Die hektische Energie des Bahnhofs war wie weggeblasen. Hinzu kamen akustische Wahrnehmungserlebnisse - die Stimmen der Menschen wurden lauter und gleichzeitig schleppender.
Borchardt lief weiter ins Bahnhofsgelände und spürte, wie er sich trotz seiner veränderten Wahrnehmung in normaler Geschwindigkeit durch den Raum bewegte. Jetzt brauchte er nur noch seiner Eingebung Folge leisten. Und darin war er unschlagbar. Sein uneingeschränktes Vertrauen, in die richtige Richtung geführt zu werden, war maßgeblich bei allem, was er jetzt tat. Jeder auch noch so kleiner und unbedeutend wirkender Impuls war von ausschlaggebender Bedeutung.
Borchardt hatte bis dato niemandem tiefere Einblicke in seine Fähigkeit gewährt, mit Ausnahme von Nadine, Samira, Tomas und seinem langjährigem Freund, dem Psychiater und Parapsychologen Dr. Theodor Fundeisen. Und das aus gutem Grund. Alle seine Wahrnehmungserfahrungen waren letztlich psychische Erlebnisse, die in der Psychopathologie - die Lehre von den psychischen Phänomenen und Symptomen - definiert und zur psychiatrischen Diagnostik herangezogen werden. Auch wenn psychopathologische Symptome an und für sich nicht unbedingt krankhaft sind, sondern in bestimmten Situationen auch bei Gesunden auftreten - beispielsweise bei Wahrnehmungsstörungen durch Übermüdung -, so wäre es für Borchardt fatal gewesen, seine Kollegen beziehungsweise die Öffentlichkeit einzuweihen. Wie schnell hätte er als psychotisch oder gar wahnsinnig diffamiert werden können?
Plötzlich wurde er von einer Mutter und ihrer sechsjährigen Tochter angerempelt. „Daaas… waaaar… aaabeer… eeiin… uunnfrreeunddlliiichcheeeerr… Maaannn“, hörte er das Mädchen sagen und folgte ihrer Blickrichtung.
War er das? Der Glatzkopf auf der Rolltreppe hinauf zur S-Bahn? Er war zu weit entfernt und von zu vielen Menschen umgeben, um sich sicher zu sein. Borchardt ließ sein Navi laufen und nahm die Verfolgung wieder auf.
Kurz vor den Rolltreppen drängte ihn sein Navi, seine Aufmerksamkeit auf den Edeka Markt zu richten, wo er einen weiteren Glatzkopf entdeckte, der durch die Eingangstür in den Markt verschwand.
„Okay, in welche Richtung, Martin?“ Er schaute abwechselnd zur Rolltreppe und zum Lebensmittelmarkt. Dabei verließ er sich auf sein Bauchgefühl, denn psychische Empfindungen werden auf körperlicher Ebene wahrgenommen. Zumeist sind diese Wahrnehmungen spürunbewusst und geschehen wie nebenbei. Borchardt hatte das in seinen psychoanalytischen Seminaren während des Studiums gelernt und zu einem über die Psyche hinausgehenden Konzept weiterentwickelt. Mittlerweile war er in der Lage, diese Wahrnehmungen im alltäglichen Leben bewusst und gezielt einzusetzen. Zumeist handelte es sich dabei um einen Druck in der Magengegend. Ein zarter krampfartiger Druck. Der stärkere war in der Regel der richtige.
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