Er kam erst in der Zelle wieder zu sich. Jeder Zentimeter seiner Haut schmerzte und seine Muskeln zitterten unkontrolliert. In seinem Schädel dröhnte es und er wünschte, er hätte genug in seinem Magen, um sich zu übergeben. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ein Fauchen und Stöhnen drang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Ein Schrei hallte durch die Gänge. Jemand hatte ihm sein Hemd geklaut. Erinnerungen zuckten durch seine Gedanken, aber er war zu schwach, um sie festzuhalten. Wie Wasser strömten sie wieder davon. Unter Schmerzen kroch er auf den Strohhaufen zu und wünschte sich weit weg. Schon sank er wieder in gnädiges Vergessen. Als er das nächste Mal erwachte, hatten die Kopfschmerzen nachgelassen. Jemand hatte einen Becher Wasser direkt vor ihn hingestellt, auf dem Becher lag ein Kanten Brot. Hungrig griff er danach und biss große Stücke ab. Sein Mund war so trocken, dass er kaum kauen konnte. Hastig nahm er einen Schluck von dem Wasser. Viel zu schnell hatte er Wasser und Brot aufgezehrt und nahm sich zum ersten Mal die Zeit, sich vorsichtig umzusehen. Er war in eine andere Zelle verlegt worden. Diese hier hatte kein Fenster und die Wände waren feucht. Es roch nach Schimmel und Moder. Er musste sich tief in den Kellern des Wasserturms befinden, weit unter dem Flussbett des Cor. Ein stetiges Tropfen hallte durch den schmalen Raum. Er konnte seinen Vater nirgendwo entdecken.
Die Angst kam so heftig zurück, dass ihm ganz schwindlig wurde. Er musste ruhig bleiben. Nachdenken. Sein Herz flatterte in seiner Brust wie ein kleiner Vogel. Schicksalsergeben kroch er zur Wand und lehnte den Kopf an den kühlen, schleimigen Stein. Was war nur geschehen? Er hatte keine klare Erinnerung mehr an die Folter, er wusste nur noch, dass er nie im Leben solche Schmerzen gehabt hatte. Und die Schreie gellten ihm noch in den Ohren. Seine eigenen Schreie? Hatte er gestanden? Er würde hier nie wieder rauskommen! Oder doch, wenn man ihn abholte, um ihn zum Richtplatz zu schleifen. Alles, was er tun konnte, war warten. Er konnte nichts dagegen tun, die Angst war wieder da und er stürzte in ein bodenloses Loch der Verzweiflung.
Der neue Morgen kleidete sich in zartes Rosa. Tristan war schon früh aufgewacht. Er hatte schlecht geträumt und beobachtete nun, wie die Sonne höher kletterte. Henrik regte sich bereits in dem kleinen Nachbarraum, der dem Knecht zugeteilt worden war. Er konnte ihn umhergehen hören. Vermutlich würde er bald hereinschauen und fragen, ob er das Frühstück hier oder im Speisesaal einnehmen wollte. Ihm war heute Morgen nicht nach aufstehen. Aber der Tag war schön und wollte genutzt werden. Er würde mit seinem täglichen Rundlauf beginnen, sobald er den Mut gehabt und sich für die Prüfungen eingetragen hatte. Stöhnend zog er die Decke über den Kopf. Henrik öffnete die Tür und lugte herein. „Seid ihr schon wach, Herr?“ Tristan brummelte etwas Unverständliches. „Wollt ihr euer Frühstück hier oben einnehmen?“ Er schlug die Decke zurück. „Ja. Aber vorher werde ich eine Runde laufen. Ich möchte das Frühstück in einer Stunde haben.“ Henrik nickte und verschwand, um gleich darauf mit Tristans Laufkleidung über dem Arm zurückzukehren. Er zog sich an und ging in die Bibliothek, wo die Liste auslag, in die er sich eintragen musste. Gerade hatte er nach dem Federkiel gegriffen, als er hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Er warf einen Blick über die Schulter. Gwynevra hatte sich so sehr beeilt herzukommen, dass sie barfuß gegangen war. Anna, die dumme Gans, war natürlich nirgendwo zu finden gewesen. Verzweifelt bemüht einen guten Eindruck zu machen, versuchte sie so grazil wie möglich auf ihn zuzugehen. Die rechte Hand hatte sie hinter dem Rücken versteckt. Was er wohl zu ihrem Geschenk sagen würde? Er hatte gedacht, dass er der Einzige wäre, der so früh am Morgen in die Bibliothek ging. Warum war sie gekommen? Schnell kritzelte er seinen Namen auf die Liste und wandte sich ihr zu. Was sie wohl hinter dem Rücken versteckt hielt? Sie zog die Schneekugel hervor, die sie sich extra aus Nanankra hatte schicken lassen. Sie liebte Schneekugeln über alles und sie war felsenfest davon überzeugt, dass er sie ebenso mochte. Es konnte gar nicht anders sein. Diese hier war ganz besonders hübsch, der Kristall in ihrem Innern leuchtete in einem kräftigen Rot. Diese Leuchtintensität war überaus selten bei den kleineren Kristallen. Es war ein gutes Geschenk, da war sie sich sicher. Trotzdem kam sie sich auf einmal albern vor, wie sie nur im Morgenmantel so dastand. Vielleicht sollte sie lieber wieder gehen? Ohne den ganzen Putz wirkte sie viel natürlicher. Sie war sogar richtig hübsch. Aber warum kam sie zu dieser Uhrzeit im Morgenmantel in die Bibliothek, und dann noch mit einer Schneekugel? Wenn sie doch nur den Mund aufmachen würde. Sie stand da, als hätte sie ihre Zunge verschluckt. Was erwartete sie nun von ihm? Er musste diese peinliche Begegnung beenden, bevor sie noch jemand sah. „Guten Morgen? Kann ich euch irgendwie weiterhelfen, Fräulein Gwynevra?“ Wahrscheinlich war die Arme nicht ganz bei Trost. „Ich... also, äh.“ Na das fing ja gut an. Mach schon Gwen, sag endlich was! Sie spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Ich habe ein Geschenk für Euch.“ War das lächerliche Piepsen eben tatsächlich ihre Stimme gewesen? Es war ihr so unglaublich peinlich. Das hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sinnlich hatte sie wirken wollen. Sie streckte ihm die Schneekugel hin. „Ein Geschenk?“ Er sah sie irritiert an. Sie hatte ihn doch nicht vor den Kopf gestoßen? „Zum Geburtstag. Vater hat erwähnt, dass Ihr Geburtstag habt. Und ich dachte, wo Ihr so weit weg von zu Hause seid...“ Oh bei der Göttin, sie machte alles nur noch schlimmer. Er fing an zu lachen. Sie hatte sich lächerlich gemacht! Noch immer hielt sie die Schneekugel von sich gestreckt. Das war einfach herrlich. Schnell besann er sich und nahm ihr die Schneekugel ab. Er durfte es sich auf gar keinen Fall mit ihr verscherzen. „Ich mag Schneekugeln. Vielen Dank.“ Mühsam verkniff er sich das Lachen. Das arme Kind war offensichtlich total verrückt und zu allem Überfluss in ihn verliebt. Als ob er es je drauf angelegt hätte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber ihr Vater war nun einmal der Großherzog. Wenn er keinen unverzeihlichen Fehler machen wollte, musste er vorsichtig sein. „Wie kommt Ihr darauf, dass ich mich einsam fühlen könnte? Bei so reizender Gesellschaft.“ Zwei Lidschläge lang wusste sie nicht, ob sie richtig gehört hatte. Er begann schon an sich zu zweifeln, da schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln. Offensichtlich hatte er sich doch etwas von dem Charme seines Bruders abgeguckt. Jetzt bloß nicht übertreiben, mahnte er sich. „Ihr solltet wieder ins Bett gehen, Ihr holt euch noch den Tod.“ Immer noch lächelnd verschwand sie so schnell wie sie gekommen war, nicht ohne sich noch dreimal über die Schulter nach ihm umzuschauen. Er lief und lief und hatte die Burg bald hinter sich gelassen. Mit jedem Schritt hatte er das Gefühl, die engen Fesseln der Vorschriften und Verpflichtungen abzuschütteln. Er beschleunigte und spürte seinen Puls rasen und sein Herz hämmern und fühlte sich frei. Schon konnte er das Brausen des Wasserfalls in der Ferne hören. Kurz bevor er den Wasserfall erreichte, kam er zum Stehen und bahnte sich einen Weg durch das dichte Gestrüpp, welches das Ufer des Flusses säumte. Er hatte sich nie die Zeit genommen, sich den oberen Rand des Wasserfalls genauer anzusehen. Vielleicht sollte er das jetzt nachholen, wenn die Prüfungen begannen, würde er vermutlich nicht mal mehr die Zeit zum Laufen finden. Durch eine schmale Bresche im Unterholz gelangte er schließlich zum Ufer. Gurgelnd schoss das Wasser an ihm vorbei, um sich von den südlichen Hängen in die Tiefe der Hochebene zu stürzen. Er folgte dem Wasserverlauf bis zum Rand der Klippen und blickte hinab. Wenn er doch auch nur so frei und ungezwungen davon schießen könnte. Mehrere hundert Meter stürzten die Wassermassen in die Tiefe und alles war in einen feinen Sprühnebel gehüllt, der seine Kleider durchtränkte und sich kühlend auf sein verschwitztes Gesicht legte.
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