„Hetzel. Mein Name ist Hetzel. Hast du gesehen, ob es hier irgendeine Möglichkeit gibt zu verschwinden? Ich habe nämlich keine Ahnung wie es da draußen aussieht. Ich war bewusstlos als sie mich hierher brachten.“
„Deshalb habe ich ja die Rauferei angefangen. Ich brauchte Zeit, um mich umzusehen“, grinste Rowan. „Es wird zwar nicht leicht werden, aber unmöglich ist es nicht. „Wie haben die dich denn erwischt?“ Hetzel erzählte es ihm.
„Und dabei habe ich sowieso schon viel zu viel Zeit im Kampf gegen die Orks verloren. Dieser verdammte Balbur“, fügte er wütend hinzu. „Ich muss unbedingt nach Arakow, da warten Freunde auf mich, denen ich beistehen muss.“
Gedankenverloren starrte er vor sich hin und erinnerte sich. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass ausgerechnet ihn irgendwann eine Vision heimsuchen könnte. Und doch war es geschehen!
Seitdem wusste er um die Gefahr, in welcher der Perlmuttbaum schwebte und nicht nur er, sondern ebenso die Natur und die übrigen Lebewesen dieser Welt.
Er wollte sich sofort nach Preleida aufmachen, doch Balburs Intrige – wie er jetzt wusste – hatte das verhindert. Und jetzt saß er hier bei den verfluchten Orks fest.
„Ich hatte mir nach dem bösen Erlebnis mit einer Schwarzen Hexe geschworen, mich nie wieder gefangen nehmen zu lassen“, seufzte Roman. „Hätten mich diese Samiras und ihr Bruder nicht gerettet, wäre die Sache übel ausgegangen.“
Hetzel fuhr hoch, als hätte er einen Stromschlag erhalten. „Wie sah die Frau aus?“, keuchte er erregt.
„Schön, sehr schön“, erwiderte Rowan versonnen. „Schlank, feingliedrig, schmales Gesicht. Und dann diese smaragdgrünen Augen und das schulterlange kupferfarbene Haar. Wirklich ein Bild von einer Frau. Ihr Bruder sah allerdings auch sehr gut aus. Aber ihre übrige Begleitung war schon sehr ungewöhnlich“, fügte er nachdenklich hinzu.
„Was meinst du mit ungewöhnlich?“, wollte Hetzel wissen. Natürlich war ihm bereits klar, dass der Mann Samiras getroffen haben musste. Die Beschreibung passte genau auf sie.
„Na ja, als Frau mit einem riesigen Troll herumzuziehen ist ja wohl nicht das Übliche, oder?“
„Du hast meine Freunde getroffen“, sagte Hetzel leise. „Mit ihnen will ich mich in Arakow treffen. Eine schwarze Pantherin, ein Mauswiesel und ein Elf müssen auch dabei gewesen sein. Hast du sie gesehen?“
„Willst du mich veräppeln? So seltsam waren ihre Begleiter ja nun auch wieder nicht“, erwiderte Rowan, der sich auf den Arm genommen fühlte.
„Es ist mein völliger Ernst“, beruhigte ihn Hetzel. „Sie alle und noch einige andere halfen dabei, den Perlmuttbaum zurückzubringen.“
Rowan starrte ihn ungläubig an. „Ihr wart das? Ihr habt die Welt gerettet, Mann! Ist dir das eigentlich klar?“, stieß er hervor.
„Natürlich weiß ich das. Das Schlimme jedoch ist, dass wir es noch ein zweites Mal tun müssen. Das Böse hat nämlich erneut Fuß gefasst und bedroht den Perlmuttbaum und damit uns alle“, erwiderte Hetzel frustriert.
„Ich helfe euch“, sagte Rowan spontan. „Ich bin zwar auf der Suche nach meinem Bruder, aber vielleicht lässt sich das ja irgendwie miteinander vereinbaren.
„Wo wolltest du denn nach ihm suchen?“
„Zuletzt soll er mit seinem Freund George in Okzaht gewesen sein“, erwiderte Rowan. „Vielleicht kommen wir da ja vorbei. Ich meine, falls ihr mich überhaupt dabei haben wollt.
Allerdings könnte ich so meine Schuld gegenüber der Frau begleichen. Du kennst mich zwar noch nicht, aber das kann ja noch kommen. Vielleicht kannst du dann ja ein gutes Wort bei deinen Gefährten für mich einlegen“, schlug Rowan augenzwinkernd vor.
Hetzel reagierte nicht auf seine Worte. Der Name George war ihm unter die Haut gegangen, hatte ihn an dessen Verrat in der Todeswüste erinnert. Konnte das Zufall sein? Er musterte Rowans Gesicht. War da Ähnlichkeit?
„Wie heißt denn dein Bruder“, fragte er gespannt.
„Karon. Mein Bruder heißt Karon“, erwiderte Rowan ahnungslos.
Woher sollte er das Schreckliche auch wissen? Und jetzt war es an Hetzel, die Schrecken wieder aufleben zu lassen. Er wollte das nicht! Für nichts auf der Welt wollte er diesem Fremden das Furchtbare erzählen. Doch wollte er ihn nicht umsonst weitersuchen lassen, würde er es müssen!
„Du bist in Kaffra zu Hause?“, fragte er zögernd.
Rowan musterte ihn misstrauisch. „Woher weißt du das, Zwerg Hetzel?“
Hetzel schluckte. Verdammt! Wie sollte er es am besten angehen. Der Mann war völlig ahnungslos, glaubte seinen Bruder bald wiederzusehen. Wie sollte er ihm die Geschehnisse nahebringen?
Wie erklären, warum Karon freiwillig sein Leben hingegeben hatte? Er war dabei gewesen, hatte alles hautnah erlebt. Wie sollte er die vielfältigen Erlebnisse in Worte kleiden? Er, der sowieso kein großer Redner war?
„Also, Hetzel? Woher weißt du, dass Kaffra meine Heimat ist?“, drängte Rowan auf eine Antwort.
„Ich weiß es von deinem Bruder Karon“, erwiderte Hetzel bekümmert. „Wir stießen in der Todeswüste auf ihn und seinen Freund George. Sie waren halb verdurstet. Wir retteten sie, daraufhin schlossen sie sich uns an.
Karon war auf der Suche nach eurem Bruder Amos, der bei dem Magier Teufat zusammen mit Georges Bruder Krieger ausbildete. Doch er kam leider zu spät. Der Magier hatte sie bereits lange vorher getötet“, erzählte Hetzel.
„Waren Karon und George bis zuletzt dabei?“, wollte Rowan wissen.
„Karon war fast bis zuletzt bei uns. George jedoch kam in der Todeswüste um. Der Magier Teufat tötete ihn. Aber er hat es verdient, denn er verriet Samiras an den Zauberer, die fast dabei umgekommen wäre“, sagte Hetzel hart.
Rowans vorher funkelnde Augen hatten sich getrübt. War es der Schatten einer Ahnung? War es die Furcht zu erfahren, dass etwas oder jemand unwiederbringliche Vergangenheit war? Hatte diese Erkenntnis einen Schleier vor seine eben noch so strahlenden Augen gezogen? Was hatte der Zwerg gesagt? Karon sei fast bis zuletzt bei seinen Gefährten gewesen. Fast! Und wieso nicht bis ganz zum Schluss?!
Rowan schluckte, räusperte sich, setzte zum Sprechen an. Doch diese Frage wollte nicht über seine Lippen. Die Antwort mochte vielleicht zu schrecklich sein. Und doch war sie letztendlich so viel schrecklicher, als er sich überhaupt ausmalen konnte.
Hetzel, der ihn nicht aus den Augen gelassen hatte, erkannte seine Sorge, erkannte seine Qual. Auch Unwissenheit kann zerstören, dachte er. Rowan muss die ganze Wahrheit erfahren.
Und so erzählte er von Karon. Erfreute sich ein letztes Mal an Karons Kameradschaft, seiner Ehrenhaftigkeit, seiner Freundschaft und seiner absoluten Loyalität.
„Selbst der kühle und zurückhaltende Elfenkönig schloss Freundschaft mit ihm. Da hatten wir sämtliche Herausforderungen überwunden, waren dem Erfolg so nahe und dann ...“, Hetzel stockte.
„Und dann? Was war dann? Was ist meinem Bruder passiert? Ich muss es wissen, Hetzel. Sag es mir.“
Hetzel legte den Kopf in die Hände und seufzte. „Dann kam der Moglack“, flüsterte er.
Und wie damals spürte er das Grauen beim Anblick des Ungeheuers, spürte dessen grenzenlose Bosheit, seine Mordgier und seine Hinterhältigkeit. Sah den Gnom Urselik am Gift des Moglack qualvoll sterben.
Hörte die Geräusche herabstürzender Gesteinsmassen, die das Ungeheuer aufhalten sollten. Sah sich und die Gefährten bis zu dem nach draußen führenden Brunnen fliehen. Und hörte Tolkar mit der bewusstlosen Pantherin auf den Armen auf die Frage nach Karon sagen: „Er kommt nicht mehr zurück.“
„Danach erfuhren wir von Tolkar, dass Karon bei dem toten Gnom Urselik in dem Stollen geblieben war. Der Moglack hatte auch ihn verletzt und diese Verletzung hätte ihn zu einem unvorstellbaren Ungeheuer mutieren lassen. Von dem Menschen Karon wäre nichts geblieben.
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