Und die Funkerei? Ende der 1990er Jahre war endgültig Schluss mit der Telegraphie, heute werden die SATCOM-Anlagen von Nautikern nebenbei mitbedient, die Morsetaste finden wir, von den Stationen einiger traditionsbewusster Amateurfunker einmal abgesehen, nur noch im Museum. Es macht in der Handhabung keinen Unterschied mehr, ob man den Kapitän an Bord oder Tante Emma in Buxtehude anruft, die Dampfer sind ohne Vermittlung eines Küstenfunkstellen-Operators per Durchwahl zu erreichen. Geblieben ist mir und vielen anderen Kollegen die Erinnerung an eine stolze Zeit, in der es zu unserem Job als einzige Verbindung zur Außenwelt keine Alternative gab.
Davon möchte ich auf den folgenden Seiten erzählen. Von einer Seefahrt, die es in dieser Form heute nicht mehr gibt. Von skurrilen Typen und von feinen Kerlen, die dieses Leben damals mit mir teilten. Von Häfen, die alles boten, was der Seemann erträumte. Von Schiffen, die längst im Hochofen verschwunden sind. Von unseren Hafenmädels, die uns temporär halfen, die Einsamkeit zu vergessen. Und Einiges mehr…
Im ersten Teil des Buches schildere ich meinen persönlichen Werdegang und in einem zusammengefassten Rückblick meine ersten Erfahrungen mit der Seefahrt in der Funktion eines „Aufwäschers“. Im zweiten Abschnitt nehme ich den Leser „live“ mit auf meine erste große Fahrt als Funkoffizier.
Noch ein Wort zu der von mir verwendeten Erzählsprache: Wir hatten an Bord eine eigene Ausdrucksweise, dieser Jargon findet auch in diesem Buch seinen Niederschlag. Vorherrschend war als Umgangssprache Deutsch, sehr vermischt mit englischen und plattdeutschen Elementen, und die waren nicht immer stubenrein. Das mag sich für zart besaitete Gemüter manchmal ein wenig heftig darstellen, aber ich ziehe die realistische Wiedergabe der „political correctness“ vor. Der derbe Umgangston sollte nicht darüber hinweg täuschen, dass etliche Sailors auch hohe intellektuelle Ansprüche durchaus erfüllen konnten, in der rauen Welt dieser Männergemeinschaften waren aber feingeistige Salongespräche wirklich die große Ausnahme. Auch die wenigen Stewardessen und weiblichen Funkoffiziere, die zu jener Zeit als einzige Frauen Zugang zu Seefahrtsberufen hatten, waren gut beraten, wenn sie sich nicht allzu empfindlich zeigten.
Die Erzählungen basieren teilweise auf Notizen und einigen Dokumenten, die ich aufbewahrt habe, sowie meiner Erinnerung. Aus meinem langjährigen Freundeskreis wurden mir Briefe und Karten zur Verfügung gestellt, die ich damals schrieb, auch das war hilfreich. Trotzdem kann es schon mal vorkommen, dass ich bei der Schilderung einer Reise die Folge der Häfen oder sonstige chronologische Abläufe nicht ganz korrekt wiedergebe. Meine ersten beiden Pötte in der Fahrtzeit als Funker waren identische Kühlschiffe mit zum größten Teil identischem Fahrtgebiet, da mag sich in der Erinnerung einiges „vermischen“.
Aber alles, was ich hier an Ereignissen schildere, habe ich genau so erlebt. Basiert die Begebenheit auf den Erzählungen anderer Seeleute, habe ich dieses vermerkt. Die Namen meiner damaligen Bordkollegen gebe ich teilweise korrekt wieder, teilweise aber auch verändert, nicht jeder ehemalige Fahrensmann möchte gerne für den Unfug „geoutet“ werden, den er damals anrichtete. Und einige Namen habe ich schlicht vergessen.
Und wie halte ich es mit dem Begriff ‚Seemannsgarn’? Eine Story ist nicht erstunken und erlogen, weil sie der Zuhörer nicht zu glauben vermag. Vieles, was wir erlebten, ist kaum vermittelbar. Natürlich schleichen sich kleine Übertreibungen ein, wenn man etwas besonders Erzählenswertes berichtet. Na und? Wenn Angler über ihren Fang sprechen, zeigen viele Fische noch lange nach ihrem Ableben ein erstaunliches Wachstum. Dann dürfen wir Seeleute auch die Wellen ein klein wenig höher schnacken.
So, nun habe ich mich genug erklärt, fangen wir mal an zu erzählen. Wie kommt eine junge Landratte aus dem Odenwald, fern den Küsten und Meeren, auf die Schnapsidee, ein Seemann zu werden?
Der lange Marsch zum Seefahrtsberuf
oder
Warum denn einfach, wenn es auch umständlich geht?
Meine persönliche Kiellegung fand 1949 statt, da kam ich in dem schönen Städtchen Miltenberg am Main zur Welt. Na ja, es wahr wohl eher der Stapellauf, die Kiellegung wurde neun Monate früher inszeniert…
Ich war noch im Kindergartenalter, als meine Eltern getrennte Wege gingen. Meine Mutter musste sich nun mit mir alleine durchschlagen, in jener Zeit noch ein recht schwieriges Unterfangen. So überließ sie mich und meine Erziehung ihrem Onkel und dessen Frau, die beiden Leutchen holten mich zu sich in den Odenwald, und später wurde ich dann im Einvernehmen aller Beteiligten von ihnen adoptiert. Mein neuer Vater war Mechanikermeister, grundsolide und bodenständig, den Lebensunterhalt verdiente er mit einer kleinen Fahrradwerkstatt, in den späteren Jahren dann als Meister in einer Fabrik für Bergbaufahrzeuge. Weiter entfernt von der christlichen Seefahrt kann ein soziales Umfeld nicht sein.
Eine Realschule im Nachbarstädtchen wurde mit der undankbaren Mission meiner Schulbildung beauftragt. Eltern und Lehrer gedachten mich wenigstens bis zur Mittleren Reife zu „fördern“, meine Mitarbeit hielt sich allerdings in Grenzen.
Für den Physikunterricht war ein gewisser Herr Müller zuständig. Im Kriege hatte er als Funker gedient, in einer Unterrichtsstunde zu dem Thema ‚angewandte Elektrophysik’ schleppte er einen Tongenerator herbei und beglückte uns sichtlich begeistert mit einer kleinen Einführung in die Kunst des Morsens. Ich saß wie üblich in der letzten Reihe des Physiksaales und dachte: ‚Unglaublich, wie ein normaler Mensch seine Zeit mit dieser Piepserei verbringen kann. So erzeugt man also Tinnitus. Der hat doch nicht alle Latten am Zaun!’ Damit war das Thema für meine Person abgehakt. Von Zukunftsvisionen meinerseits konnte keine Rede sein…
Halbwegs akzeptable Leistungen erbrachte ich in Deutsch, Geschichte und Geographie, grottenschlecht war das, was ich in allen naturwissenschaftlichen Fächern, Mathematik, Physik und dergleichen ablieferte, die Noten waren entsprechend. Nicht gerade die ideale Voraussetzung für die doch ziemlich technische Ausbildung zum Berufsfunker, wie mir später klar wurde.
1965 muss es wohl eine Generalamnestie für lernfaule Schüler gegeben haben, mir wurde tatsächlich das Zeugnis der mittleren Reife zuerkannt, Eltern und auch einige Lehrer waren gleichermaßen überrascht. Ich ebenfalls. Um meine Vorstellungen von einem interessanten und abenteuerlichen Beruf umzusetzen, hatte ich mir ausgerechnet die Bundeswehr als geeignete Plattform auserkoren, nicht unbedingt eine meiner großartigsten Ideen, man war halt 16 Jahre jung und entsprechend ‚schlau’. Angedacht war, das Jahr bis zu meinem 17. Geburtstag als Jobber zu überbrücken und dann zu den Fahnen zu eilen. Mein Vater, mit dieser tollen Absicht konfrontiert, war zunächst mal fassungslos. Er gehörte zu der Generation, die noch lange unter den Folgen des Krieges litt, Uniformträger waren ihm gründlich verhasst. Vielleicht mit Ausnahme des Postboten. Nach mehreren Krisensitzungen des Familienrates kam es zu einer erzwungenen Planänderung. Im April 1965 erhielt der Möchtegernsoldat eine Lehrstelle beim Landratsamt des Odenwaldkreises. Vater erhoffte sich von der Verwaltungslehre einen späteren Wechsel in die Beamtenlaufbahn mit guter Absicherung für seinen Filius. „Junge, denk auch mal an die Pension!“ Kein Mensch denkt mit 16 Jahren an die Pension, aber in diesem Alter hatte man damals wenig Alternativen, wenn die Eltern nicht kooperierten…
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