Im Grunde war bei ihm jede einzelne Arbeitsstunde gleich, glich wie ein Ei dem anderen. Hätte er an einem einzigen Tag im Jahr auch nur drei Minuten nach achtzehn Uhr Feierabend gehabt, hätte er es rot im Kalender vermerkt, Die freien Tage am Wochenende nutzte Rudolf jedoch immer, um sich von der “schlauchenden Arbeitswoche“, wie er es nannte, -häufig von Schwiegervater Karl belächelt, zu erholen. Auf dem Hof, bei der Landwirtschaft, half er so gut wie nie, was seinem Schwiegervater von Anbeginn der Ehe mit Marianne missfiel. Karl hätte sich einen Schwiegersohn gewünscht, der mit ganzer Kraft in die Landwirtschaft eingestiegen wäre, denn so wie jetzt würde der Hof nicht mehr lange zu bewirtschaften sein, …vermutlich. Karls Hoffnung war es, dass er mit nunmehr neunundfünfzig Jahren noch so lange zusammen mit Tochter Marianne die Arbeit würde leisten können, bis ein Mitglied der nächsten Generation auf dem Hof vollzeitig einsteigen würde. Aber der Nachwuchs müsste dies auch wollen. Und würden die Jahre bis dahin nicht doch zu lange für Karl werden? Das neugeborene Mädchen wäre frühestens in zwei Jahrzehnten vor die Entscheidung zu stellen, den Hof zu übernehmen, Interesse ihrerseits vorausgesetzt. Ungefähr gleich lange würde der zweijährige Erstgeborene von Rudolf und Marianne noch Bedenkzeit haben, dessen war Karl sich bewusst. Die große Verantwortung einen selbst kleinen Bauernhof zu führen, durfte nicht überstürzt entschieden werden. Ein Bauernhof bedeutet harte Arbeit, im Grunde rund um die Uhr und war das genaue Gegenteil der Ponyhofromantik, die viele unwissende Großstädter auf dem Land vermuteten, wie Karl es immer wieder betonte, wenn das Thema auf die Zukunft des Hofes fiel. Karl meinte stets, dass er einen echten Mann an den Händen erkenne. Sind die Handflächen weich und rosafarbig hat der Weichling, wie er es nannte, auf dem Land nichts zu suchen. Nach Karls Philosophie mussten Männerhände hart, rau und von dicker Hornhaut bedeckt sein, -einen Händedruck, gleich eines Schraubstockes ausüben können und völlig temperaturunempfindlich sein. Karl wusste, was Anpacken bedeutet, weil er von Kindesbeinen an das Arbeiten, das schwere Arbeiten gewohnt war. Die Zeit, einen halben Tag die Füße hochzulegen, hatte ein Bauer nicht, denn jedes Tier, egal ob Milchvieh, Borsten- oder Federvieh musste versorgt werden, mit allem was dazu gehörte. Dieser Verantwortung musste sich jeder ernsthafte Anwärter auf die Hofübernahme bewusst sein. Schon lange kreisten die Gedanken von Karl um das Thema der Hofzukunft. Und auch wenn er ein wenig traurig darüber war, das Rudolf am Hof kein Interesse zeigte, so war er doch andererseits auch stolz auf seinen Schwiegersohn, denn in seiner Arbeit als Versicherungsangestellter blühte er auf und führte den Job zuverlässig und mit großem Fleiß aus. Immer wieder betonte Karl auch, dass Rudolf gutes Geld verdiene, ohne sich zu überanstrengen. Meist schoss Karl solche Verbalpfeile ab, wenn er müde gearbeitet und leicht gereizt war, aber es blieb stets bei einem Satz. Aber im Herzen wusste Karl, das Rudolf ein treusorgender Ehemann und Familienvater war. Einzig die Auffassung von Arbeit unterschied die zwei Männer, ansonsten respektierten sich beide gegenseitig. Während Rudolf noch ein wenig in seiner Aktentasche, die auf dem Stuhl neben ihm stand, herumkramte, wie er es immer tat, bevor er sich auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz machte, trug Karl, dessen Gedanken noch immer bei der Zukunft des Hofes waren, die beiden leeren Kaffeetassen, zu dem kleinen Spülbecken unweit des Esstisches. „Karl“, sagte Rudolf, während er seine Aktentasche verschloss, „ich werde heute nach der Arbeit rüber zum Krankenhaus fahren. Der Arzt hat gemeint, dass Marianne und das Baby, wenn nichts dazwischen kommt, heute Abend nach Hause dürfen. Freust du dich auf Johanna?“ „Johanna, …an den Namen muss ich mich erst noch gewöhnen, …natürlich freue ich mich auf die kleine Krott. Du weißt ja, wie ich es meine. Hier in unserer Gegend bezeichnen wir liebevoll ein kleines Mädchen als Krott, es ist sozusagen eine süße kleine Kröte.“ Während Rudolf wortlos zu den Kleiderhaken ging, welche an der Rückseite der Küchentür befestigt waren, um seine hellgraue Anzugjacke abzuhängen, fuhr Karl fort: „Rudolf, warum hängst du denn deinen Wams, -deine Jacke immer in der Küche auf? Sie nimmt doch den Geruch des Essens an.“ „Mach dir keine Gedanken“, erwiderte Rudolf, „ die Jacke ist nicht so empfindlich. Die Küche wird auch in Zukunft ein guter Platz für sie sein, …sicher besser als unser Schlafzimmer, wenn es nach den vollgeschissenen Windeln von Johanna stinkt. Oje, …bei Marianne darf ich nichts von stinkenden Windeln sagen, …du weißt doch, …für Mütter stinken die Windeln nicht, sie muffeln höchstens.“ „Wie wahr“, ergänzte Karl, „wenn ich daran denke, wieviel Stoffwindeln Marianne in den nächsten Monaten waschen muss. Da hat sie viel zu tun, …aber so ist das halt, … Windelwaschen ist Frauenarbeit.“ „Gottlob, da hast du recht“, nickte Rudolf, „ich habe vorsorglich einen ganzen Schwung neuer Stoffwindeln gekauft, falls Marianne mit der Wäsche nicht nachkommt. Gott sei Dank ist der kleine Dietrich seit einigen Wochen aus den Windeln raus, so hat Marianne nicht noch die doppelte Arbeit. Obwohl Dietrich mit seinen zweieinhalb Jahren eigentlich ganz früh sauber ist, zumindest im Vergleich zu mir. Meine Mutter hat mir immer vorgehalten, dass ich noch an meinem vierten Geburtstag Windeln anhatte.“ „Großer Gott“, fuhr Karl auf, „da war deine Mutter aber nicht zu beneiden, bei so einem hosenscheißenden Balg, oder?“ „Ja, so war ich eben“, antwortete Rudolf, „nun muss ich mich aber fertigmachen. Die Arbeit ruft.“ Rudolf spähte auf seinem Weg durch den Hausflur einen kurzen Moment in das offen stehende Schlafzimmer, um einen Kontrollblick auf seinen kleinen Sohn Dietrich zu werfen, der friedlich schlafend in dem kleinen Kinderbettchen, welches direkt neben dem elterlichen Ehebett stand, vor sich hinschlummerte. Dann verschwand er hinter der Badezimmertür. Knapp zehn Minuten später kehrte der Mann in die Küche zurück, fein heraus geputzt in seinem grauen Anzug, dem weißen Hemd und der blassvioletten Krawatte. Dazu die schwarzen Lackschuhe und die vergoldeten Manschettenknöpfe. Der eigentliche Geruch der Küche, bestehend aus einer Mischung von Kaffeearoma und etlicher sonstiger, teils undefinierbarer Geruchsrichtungen, zu denen auch Karl nicht unerheblich beitrug, wurden schlagartig von Rudolfs starkem Rasierwasser überdeckt. Der Mann verwendete das scharfe Wasser allmorgendlich, obwohl es wie Feuer auf der empfindlichen Gesichtshaut brannte. Karl hingegen pflegte überhaupt kein Rasierwasser zu nehmen, denn man könnte seiner Meinung nach die Haut mit reinem Leitungswasser wesentlich pfleglicher behandeln, als mit dem Geldabzockerwasser. „Ich bin fertig, Karl“, rief der Schwiegersohn, während er seine Aktentasche griff und anschließend aus der schmalen Schublade des massiven Holztisches seinen Autoschlüssel hervor holte, „kannst du bitte nachher nach Dietrich sehen? Er schläft noch, …seine frischen Anziehsachen liegen neben dem Bett auf der Kommode. Schau, dass er genug isst, aber pass bitte auf, dass er nicht alleine die steilen Treppen betritt. Meinst du, du schaffst es? Heute Abend sind wir ja alle wieder da. Ich hole Marianne und Johanna vermutlich direkt nach der Arbeit ab.“ „Alles klar“, antwortete Karl nickend, „schließlich habe auch ich schon Kinder großgezogen. Unsere Marianne kam ja mitten im zweiten Weltkrieg zur Welt. Meine Güte, das waren Zeiten, …so etwas kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Und den Luxus von vorgefertigten Stoffwindeln, die man nach Gebrauch nur waschen muss, hatten wir seinerzeit nicht, …wir mussten Stoffreste und dergleichen nehmen. Heute in den Sechzigern habt ihr es so gut.
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