»Äh, das ist jetzt echt ungünstig«, brachte es ihre Tante auf den Punkt. Miranda schaute sich um und überlegte offenbar, wie sie ihrer Nichte helfen konnte. »Hier sind überall Kameras, wobei … Heute hat Danny Schicht auf der Brücke, den könnte ich schon von den Überwachungsmonitoren ablenken. Im Grunde schaut da wahrscheinlich während der Überfahrt sowieso kaum jemand drauf, die sind eigentlich für den Hafen, wo verdammt viel geklaut wird.«
»Miranda, hör bitte auf zu quasseln und hilf mir!« Lyras Bitte war eine Mischung aus Jammern und Drohung. Gleich würde der Luchs aus ihr herausbrechen, was sie irgendwie verhindern musste.
»Lenk diesen Danny ab und schick bitte die Rabenbrüder an Deck. Ich …« Lyra schluckte, sie spürte bereits die Reißzähne an ihren Lippen. Was war nur los mit ihr? Beherrschte sie nicht längst das Tier in ihr und konnte genau bestimmen, wann und wo sie sich verwandelte? Mit eisernem Griff hielt sie sich an der Reling fest, konzentrierte sich auf die Wellen, die stetig an den Bug des Frachters knallten.
»Kätzchen, das Schiff hat volle Fahrt, in etwa zwanzig Minuten werden wir die Küste Islands erreichen. Hab Geduld!« Miranda tätschelte Lyras Schulter und machte sich dennoch auf den Weg zur Brücke. Sie wusste offenbar genau, dass Lyra nicht warten würde, nicht warten konnte.
Geduld! Klar, unter normalen Umständen hätte sie es vielleicht fertiggebracht, geduldig zu warten, bis das Schiff Island erreicht hatte und sich erst dann hoch oben auf der schneebedeckten Caldera des Vulkans Katla auszutoben. Nur jetzt konnte Lyra das Tier in ihr nicht mal mehr fünf Minuten unterdrücken. Und in Island konnte sie auch nicht einfach los zum Mýrdalsjökull, sie musste zu Ian, der sie hoffentlich noch wiedererkannte. Und sie musste zu ihrem Großvater, brauchte Gewissheit, dass sie nicht zu einem Vampir wurde oder verrückt.
Komm zu mir!
Etwas Dunkles, Mächtiges schien von ihr Besitz zu ergreifen. Und dieses Gefühl wurde mit jeder Sekunde stärker, das Tier in ihr mutierte zur Bestie.
Scheiße!
Lyra hörte die Rabenbrüder hinter sich. Sie war nicht länger allein, würde also im weiten Ozean kaum verloren gehen, falls ihr Verstand aussetzte. Mit einem Blick zur Brücke, wo Miranda laut kicherte und mit diesem Danny flirtete, kickte Lyra ihre Schuhe gegen eine Containerwand, zerrte erst die Jacke, dann Hose, Shirt und Unterwäsche von ihrem bebenden Körper und stürzte sich in die eiskalten Fluten des Atlantiks.
Stille umfing sie. In den Fluten des Ozeans, im Körper der Katze fühlte Lyra kein Chaos, keinen Zwiespalt. Hier hatte sie keine Angst, vor der Welt und sich selbst zu versagen, die helle und die dunkle Seite in Einklang zu bringen. Das Meer empfing sie mit all seiner majestätischen Kraft, seiner Ruhe und ursprünglichen Gelassenheit. Der Luchs war nicht in seinem Element und doch gehörte Lyra hierher. Sie war geboren aus dem Wasser und dem Feuer.
Das Meer war ihr Zuhause.
Als der Luchs die Lichter des Leuchtturms von Dyrhólaey sah, verwandelte er sich zurück. Lyra schwamm in menschlicher Gestalt weiter. Sie erkannte die zu schwarzem Basalt verzauberten Kobolde, die Reynisdrangar. Dort hatte sie mit Redrubi gesprochen, dort hatte sie sich von Ian verabschiedet … und jetzt war sie wieder hier.
Heimat ist, wo dein Herz wohnt.
Ihres wohnte bei Ian.
Dieser Gedanke ließ ihre Arme schneller ins Wasser tauchen. Lyra schwamm, obwohl die Kräfte sie längst verlassen hatten. Im Grunde grenzte es an Wahnsinn, was sie hier tat. Das Wasser war eiskalt, ihre Haut schmerzte, als würden Millionen Nadeln in sie stechen. Ihre Muskeln waren taub, in ihrer Lunge brannte es. Hektisch warf sie einen Blick zurück, dann nach links. Der Frachter war verschwunden. Er steuerte den Hafen von Reykjavik weiter westlich an.
Scheiße!
Jetzt war Lyra auf sich allein gestellt. Was hatte sie nur zu diesem Blödsinn getrieben? Sie verwandelte sich zurück in den Luchs, aber auch das Tier in ihr hatte keine Kraft mehr. Sie waren eins, nährten sich aus einem Körper in unterschiedlicher Gestalt. Lyra breitete die Arme aus, blickte hinauf zum Himmel und ließ sich treiben. Nur einen Moment wollte sie sich erholen, Kräfte sammeln.
Du bist wie ich, ich bin wie du , hörte sie die Stimme der Göttertochter. War Redrubi hier? Hatte sie nach ihr gerufen?
Etwas riss Lyra in die Tiefe. Ihr menschlicher Körper glitt in die Dunkelheit.
Vielleicht wird auch dir die Liebe zum Verhängnis. Gib auf dich acht und entscheide weise!
Nur tröpfchenweise gelangten die Worte in Lyras Verstand. Jede ihrer Zellen gierte nach Leben. Immer weiter schwebte sie dem Abgrund entgegen.
Was, wenn sie sich einfach treiben ließ?
Sie wollte keine Entscheidungen treffen, weder stark noch weise sein. Viel leichter wäre es doch, jetzt einfach aufzugeben, loszulassen. Nur ein Atemzug und das salzige Wasser würde ihre Lunge okkupieren.
Doch dann dröhnte die Melodie des irischen Volkslieds durch die Düsternis.
In Dublin’s fair city
Where the girls are so pretty
I first set my eyes on sweet Molly Malone.
Lyra war, also würde sie eine Geige spielen hören. Da waren Stimmen, jede Menge Stimmen, die jene inoffizielle Hymne der Stadt Dublin sangen, die für den Überlebenswillen der Menschen dort stand.
Alive, alive, oh …
Lyra öffnete die Augen. Nein, sie würde nicht aufgeben. Panisch ruderten ihre Arme, drängten ihren Körper zur Wasseroberfläche.
Sie musste atmen!
Aber der Weg zum lebensspendenden Sauerstoff war weit. Über ihr war nichts als Schwärze, unter ihr ebenso. In den dunklen Fluten hatte sie die Orientierung verloren. Wo war oben und unten?
Angst überrollte Lyra, nahm sie gefangen und hielt ihren Körper im eisernen Griff. Ihre Arme fühlten sich tonnenschwer an, trotzdem bewegte sie ihre Muskeln, schwamm in jene Richtung, von der sie glaubte, dass es oben war. In ihrer Lunge brannte es, als wäre Säure darin.
Sie musste atmen, musste leben!
Ein Schatten kam auf sie zu, wurde größer. Etwas Glattes berührte ihre Haut, drückte sich gegen ihren viel zu schwachen Leib. Wie in einem Fahrstuhl sauste Lyra durch die Fluten und durchbrach endlich die Wasseroberfläche. Prustend rang sie nach Luft, sog sie gierig in ihre brennende Lunge.
Was war das? Sie konnte nicht schwimmen. Unter ihr fühlte sie dieses glatte Etwas, das sich erneut in Bewegung setzte. Instinktiv drehte sich Lyra um, griff nach einem schwarzen Dreieck, das wie eine Finne aussah. Tatsächlich, sie ritt auf dem Rücken eines Orcas. Wie irre war das denn?
Immer wieder versank Lyras Verstand in der Dunkelheit des nahenden Todes. Nur mit Mühe konnte sie sich an der Flosse des Schwertwals festhalten, der im stetigen Rhythmus mit ihr unter Wasser tauchte. Die Basaltfelsen der Reynisdrangar waren jetzt direkt vor ihr. Lyras sensible Augen fanden einen roten Punkt am Ufer, dann zwei.
Ihre Hände lösten sich von der Flosse des Wals. Gewissheit durchströmte Lyra. Nein, sie würde heute nicht sterben. Anstelle des Orcas erhob sich wie von Zauberhand ein Wasserstrudel, der sie bis an den Strand von Vík í Mýrdal manövrierte.
»Was ist es doch gut, Freunde zu haben«, hörte Lyra die Stimme von Freyja. Ihr letzter Gedanke galt der nordischen Hexe, die den Orcas dabei half, sich im menschlichen Wahnsinn aus Bohrinseln und Offshore-Parks zurechtzufinden. Als sich warme Hände auf ihren eiskalten Körper legten, ließ Lyra los und gab sich erschöpft der Ohnmacht hin.
Sie war zu Hause.
»Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Lyra blinzelte, ihr Bewusstsein rauschte zurück in das Hier und Jetzt. Über ihr grelles Licht, um sie eine weiche Decke, die Stimme ihrer Mutter.
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