»Was sie sagt?« Lyra wusste zwar seit einigen Tagen, dass ihre Großeltern mütterlicherseits, also die Eltern von Miranda und Miriam, noch lebten. Sie hatte es auf dem Weg zu den Marble Arch Caves erfahren, nur keine Zeit gehabt, länger darüber nachzudenken oder ihre Tante eingehend auszuquetschen. Jetzt aber …
»Kann ich mit ihr sprechen, mit meiner Großmutter?«
Miranda schaute sie eine Weile nachdenklich an, schürzte dann die Lippen und tippte weiter. »Ich habe deinen Großeltern bereits mitgeteilt, dass du wieder unter den Lebenden weilst und offenbar kein Vampir bist.«
»Das beantwortet nicht meine Frage. Gib mir bitte ihre Nummer oder E-Mail-Adresse!«, forderte Lyra mit einem pampigen Ton in der Stimme. Die alte Wut war wieder da. Warum konnte ihre Familie nicht so sein wie andere? Was war jetzt schon wieder verkehrt?
»Ich werde sie darüber informieren, dass du mit ihnen sprechen willst.«
Lyra sprang auf, wurde aber an ihrem Wutausbruch gehindert, als ein heftiger Knall die angespannte Stille zerriss. Vor dem Bullauge war ein Leuchten zu sehen. Instinktiv duckte sich Lyra. Ein weiterer Knall dröhnte über ihnen, ein weiteres Leuchten. Sie schaute zu den anderen, Arnar grinste, Dagur ebenfalls.
»Kätzchen, du wirst deine Großeltern kennenlernen. Versprochen! Aber nicht jetzt. Jetzt wollen wir Silvester feiern, so gut es hier auf dieser verrosteten Brotbüchse möglich ist.« Miranda legte ihr Handy in die Tasche ihrer Jeans und zog Lyra in die Arme. »Alles zu seiner Zeit. Ich weiß, dass Geduld nicht gerade dein zweiter Vorname ist, aber deine Großeltern sind … na ja …«
»Was?«, brüllte Lyra über den nächsten Silvesterkracher hinweg, der gerade an Deck gezündet worden war. Ihr neues magisches Feature machte es möglich, dass sie das Frachtschiff auf dem Ozean von außen betrachten konnte. »Sie sind also doch tot oder Geister oder was?«
»Irgendwie schon«, erwiderte Miranda und beugte sich zum Bullauge, vor dem weitere Raketen explodierten und den nachtschwarzen Himmel in ein surreales Licht tauchten. »Die Mitglieder des Exempli Gratia Magicis müssen der irdischen Lebensweise entsagen, bevor sie dieses höchste Amt antreten. Sie müssen loyal gegenüber allen magischen Wesen sein, weshalb es ihnen untersagt ist, in Kontakt zu ihrer Familie oder Freunden zu treten«, flüsterte Miranda dicht an Lyras Ohr. »Dass ich sie in all den Jahren auf dem Laufenden gehalten habe, verstößt im Grunde schon gegen die strengen Auflagen des Rates. Aber wir werden einen Weg finden. Vertrau mir!«
Lyra wischte sich energisch über das immer noch blasse Gesicht. Wie sehr sie es hasste, wenn die Wahrheit ätzend war und darüber hinaus nur bruchstückhaft an sie weitergegeben wurde. Aber angesichts dieser Tatsache, dass ihre Großeltern quasi gezwungen waren, im kontaktlosen Nirwana zu leben, musste sie sich wohl mit jener E-Mail zufriedengeben und ihrer Tante vertrauen, die für sie das geltende Recht bereits übertrat. Andererseits war das mit dem Vertrauen so eine Sache. Jahrelang wurde sie von ihrer Mutter belogen, auch wenn Lyra damit allmählich ihren Frieden machte. Aber wie sollte sie Miranda vertrauen, die siebzehn Jahre lang lediglich ihre Hauskatze Merci gewesen war und offiziell als tot gegolten hatte?
»Das ist doch alles Scheiße!«, murmelte sie resigniert. »Silvester ebenfalls. Ich hasse Silvester und all die aufgesetzte Fröhlichkeit. Wir haben keinen verdammten Grund zu feiern!«
»Doch, Kätzchen, den haben wir«, entgegnete Miranda und drückte sie fest an sich. »Du bist am Leben, wir sind am Leben. Also lass uns an Deck gehen, bevor die Jungs da draußen alle Böller verschossen haben.«
Mürrisch ließ sich Lyra von ihrer Tante aus der Kabine ziehen. Die Rabenbrüder folgten ihnen, verschwanden dann aber in der Nachbarkabine.
»Hey, ihr müsst mitkommen! Einer für alle, alle für einen!«, rief Lyra den Zwillingen hinterher, die mit mehreren Sektflaschen bewaffnet zurück auf den Gang traten. »Klar kommen wir mit, aber kein Silvester ohne Sprudelwasser.« Mit jeweils einer Flasche in jeder Hand schritten Arnar und Dagur voran und stimmten ein Lied an, das Lyra vage bekannt vorkam.
»Soon may the Wellerman come, to bring us sugar and tea and rum. One day, when the tonguin’ is done. We’ll take our leave and go …«, sangen die Rabenbrüder aus voller Kehle und stampften den Takt mit ihren kleinen Füßen, als sie die Treppen zum Deck hinaufpolterten.
»Das ist ein Seemannslied, der Wellerman -Song. Hundertsechzig Jahre alt, aber irgendwie nicht totzukriegen«, kommentierte Miranda und half Lyra, deren Knie sich immer noch wie Pudding anfühlten.
Die frische Luft tat gut, die Stimmung an Deck verscheuchte Lyras trübsinnige Gedanken und auch ihre körperliche Schwäche trat in den Hintergrund, als die Männer der Besatzung in den Shanty-Song einstimmten. Miranda hielt Lyra ihr Handy hin, wo sie den Text fand. Die Männer stampften den Takt, der so ansteckend war, dass sie nicht anders konnte, als mitzusingen.
There once was a ship that put to sea
The name of that ship was the Billy o’ Tea
The winds blew up, her bow dipped down
Blow, me bully boys, blow.
Soon may the Wellerman come
To bring us sugar and tea and rum
One day, when the tonguin’ is done
We’ll take our leave and go.
She had not been two weeks from shore
When down on her a right whale bore
The captain called all hands and swore
He’d take that whale in tow.
Soon may the Wellerman come
To bring us sugar and tea and rum
One day, when the tonguin’ is done
We’ll take our leave and go.
Raketen stiegen in den mondlosen Himmel, ein Lichtermeer ergoss sich über dem Ozean. Lyra ließ sich von der ausgelassenen Stimmung mitreißen, sang aus voller Kehle und tanzte erst mit Miranda, dann mit den Rabenbrüdern und schließlich mit sämtlichen an Deck befindlichen Seemännern, von denen einige gar nicht so grausig aussahen wie in ihrer Vorstellung eines Kapitän Ahab aus Moby Dick. Weitere Lieder wurden angestimmt, Whiskey in the Jar , natürlich die gute alte Molly Malone und der Whiskey floss, als die Sektflaschen leer waren. Genau wie zahllose Tränen flossen. Tränen des Glücks und des Trotzes. Noch nie hatte Lyra ein Silvester wie dieses erlebt, aber sie war auch noch nie von einer Göttertochter gebissen worden.
Alive, alive, oh …
Ja, sie war am Leben. Anders als Molly Malone, aber der Geist des Überlebenswillens klang über die wogende See wie ein Omen.
Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel über die blauen Weiten des Ozeans. Die Freiheit war nirgendwo intensiver spürbar als auf hoher See. Lyra genoss den frischen Wind und die Stille an Deck, welche nur vom lauten Dröhnen des Schiffsmotors begleitet wurde. Ein neuer Tag hatte begonnen, ein neues Jahr. Was es wohl bringen würde?
Im Gegensatz zum letzten Silvestermorgen fühlte Lyra heute weniger den sonst so vertrauten Neujahrsblues. War es tatsächlich erst ein Jahr her, dass sie sich den Schädel kahl rasiert hatte, um ihren Eltern zu zeigen, dass sie anders war?
Jetzt lachte sie über ihren aus heutiger Sicht völlig absurden Versuch, mit Äußerlichkeiten ihre Individualität zu manifestieren. Aber das gehörte zur Pubertät dazu, genau wie zum Erwachsenwerden die Erkenntnis, dass Klamotten noch keinen Charakter machten. Solche Äußerlichkeiten dienten immer einem bestimmten Zweck, das wusste Lyra jetzt. Ihre schwarzen Schlabber-Outfits sollten ein Schutz sein, den sie irgendwann nicht mehr brauchte. Tiefe Dekolletés und hohe Schuhe polierten das eigene Selbstbewusstsein auf und konnten darüber hinaus für so manche Überzeugung oder Ablenkung dienlich sein. Und dann gab es eben noch praktische Kleidung. Die Seemänner trugen dunkle Overalls, auf denen nicht jeder Schmierölfleck gleich zu sehen war. Keiner von ihnen würde auf die Idee kommen, im weißen Leinenanzug oder rosa Tutu den Maschinenraum des Frachtschiffs zu betreten. Kurzum: Nicht jedes T-Shirt und auch nicht jede Glatze kam einem Statement gleich, auch wenn Lyra noch vor einem Jahr vehement davon überzeugt war.
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