Aber was wollte der junge Cathán mit den Armen und Beinen des Urvampirs? Er war kein Wissenschaftler wie Lyras Großvater, sondern ein beschissener Fanatiker. Allerdings hatte sich etwas verändert, eine durchaus wichtige Variable im Spiel der Götter. Der junge Cathán wollte sich an seinem Bruder rächen, ja. Aber er inszenierte diesen Krieg doch auch, weil er glaubte, auf diese Weise Redrubi für sich zu gewinnen. Er wollte in die Fußstapfen seines Namensvetters treten. Nur ging das jetzt nicht mehr, da der alte Cathán wieder lebendig war.
»Ach du heilige Scheiße!«
»Was?«, fragte Lyra und leckte sich die Finger ab. Die Rabenbrüder hatten tatsächlich rohes Fleisch auftreiben können. Es war zwar gefroren gewesen, aber Miranda hatte es mit ein paar Flämmchen aus ihren Fingern aufgetaut. Lyra lehnte sich satt zurück und schaute ihre Tante an, die hektisch auf dem Display ihres Smartphones herumwischte.
»Du weißt schon, dass die Internetgebühren auf hoher See ein Vermögen kosten?«, brummte Arnar und schaute angewidert zu den blutigen Resten des toten Tieres auf Lyras Teller. Diese tauchte ein weiteres Mal ihre Finger hinein und leckte das Blut ab. Dabei zwinkerte sie Dagur zu, der sich ein Lachen verkneifen musste. Lyra hatte erst Hannibal Lecter imitiert, dann Bram Stokers Dracula in theatralischer Geste. Nein, sie spürte keine Gier nach menschlichem Blut, dafür mit jedem Bissen Rind, wie die Kraft in ihren Körper zurückkehrte. Und deshalb gab sie sich der guten Laune hin und trieb ihre Scherze mit Dagur und Arnar, der sie immer noch skeptisch beäugte.
»Keine Angst, ich werde dich nicht fressen.« Jetzt nahm Lyra den Teller und leckte ihn ab. Das wollte sie schon immer mal tun, und heute war ein guter Tag dafür.
»DU wirst uns vielleicht nicht fressen, aber …«, murmelte Miranda, die plötzlich leichenblass war.
»Was ist denn los?«, wiederholte Lyra ihre Frage. Die gute Laune war wie weggeblasen. Eine düstere Vorahnung durchfuhr sie wie ein eisiger Windzug. »Was ist passiert?«
Miranda reichte ihr wortlos das Telefon.
Das Grauen geht um in Spitzbergen!
31. Dezember: Auf der norwegischen Inselgruppe scheinen Monster ihr Unwesen zu treiben. Die örtliche Polizei ging lange Zeit von einem tollwütigen Tier aus, das seit mehreren Monaten immer wieder Menschen tötete. Doch jetzt fanden die Beamten am Isfjord ein Massengrab mit etwa dreißig zum Teil völlig entstellten Leichen, die in den kommenden Tagen in Longyearbyen obduziert werden. Bewohner der angrenzenden Küstenstädte Barentsburg und Longyearbyen sagten aus, sie würden in der Nacht Wölfe heulen hören.
Wie passt das zusammen? Wölfe in Spitzbergen? Es gibt Polarfüchse, Rentiere und Eisbären, aber keine Wölfe und vor allem kein Tier, das ein Massengrab ausheben kann.
Die Angst geht um auf dem Archipel zwischen norwegischem Festland und Nordpol. Hier, wo das Klima rau ist, die Nächte besonders lang sind und die Dunkelheit herrscht. Die Behörden der Regionen verhängten eine vorübergehende Ausgangssperre.
»Ach du heilige Scheiße!«, wiederholte jetzt Lyra die Worte ihrer Tante.
»Sag ich doch!« Miranda nahm ihr das Telefon wieder ab. »Und dieser Scheiß ist noch nicht alles. In Nordirland wurde eine Blutbank ausgeraubt.«
Lyra hob den Blick. »Was? Meinen die uns?«
Miranda schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben doch nur sieben Beutel in Bray geklaut und nicht in Nordirland, sondern im freien Teil der Insel, das nicht unter britischem Protektorat …«
»Jaja, ich weiß.« Lyra stand auf und ging zum Schrank, wo sie vorhin einige Kleidungsstücke und eine Tasche entdeckt hatte. Ihr Handy musste dort irgendwo sein. Sie fand es nicht und schaute sich in der Kabine um. Zwischen den beiden schmalen Betten war eine Art Nachttisch, wo die Wasserflasche stand, aus der Lyra getrunken hatte. Darunter war ein Schubfach, sie riss es auf und fand ihr Telefon. Der Akku war leer.
»Haben wir ein Ladekabel?« Sie schaute zu Miranda, dann zu den Zwillingen. Dagur nickte, verschwand aus der Kabine und kam kurz darauf zurück. Lyra nahm das Ladekabel dankbar entgegen, stöpselte es in ihr Handy und den Stecker in eine Dose, die zum Glück kompatibel war. Während sie ungeduldig darauf wartete, dass der Akku so weit geladen wurde, dass sie ihr Handy anschalten konnte, hörte sie Miranda zu, die einen weiteren digitalen Zeitungsartikel vorlas.
»Aus dem City Hospital in Belfast wurden in der Nacht zum 29. Dezember mehrere hundert Blutkonserven gestohlen. Der Northern Ireland Blood Transfusion Service hat auf dem Gelände seinen Hauptsitz. Im Auftrag des Gesundheitsministeriums beliefert die unabhängige Sonderagentur alle umliegenden Krankenhäuser mit Blut und Blutprodukten und ist zudem mit der Sammlung, Prüfung und Verteilung von über 55.000 Blutspenden pro Jahr betraut. Erste Vorwürfe werden laut, dass der gemeldete Diebstahl auf ein Kartell zurückzuführen ist, das mit dem für viele schwerkranke Menschen lebenswichtige Blut enorme Mengen Geld verdient. Trotz verstärkter Sicherheitsvorkehrungen kam es in der Nacht zum 31. Dezember zu einem weiteren Einbruch. Ein Augenzeuge will bemerkt haben, wie eine dunkle Gestalt die massive Stahltür des Bluttresors mit bloßen Händen aus den Angeln gerissen haben soll. Diese und weitere Aussagen von Mitarbeitern des Northern Ireland Blood Transfusion Service geben den zuständigen Polizeibeamten Rätsel auf.«
»Ich muss nicht Einstein sein, um zu kapieren, wer die Blutbank ausgeraubt hat. Schöne Scheiße!«, konstatierte Lyra, die jetzt ihr Handy einschaltete. »Wenigstens hat der alte Cathán so viel Anstand und saugt keine Menschen aus wie dieser Blödmann in Spitzbergen. Aber ein Gutes hat das vielleicht …«
Lyra betrachtete das Display, da waren diverse Anrufe in Abwesenheit von ihrer Mutter und Ian, zahlreiche E-Mails, jede Menge Spam und eine Messenger-Nachricht bei Facebook. Nanu? Sie hatte den Account vor Jahren angelegt und fast genauso lange nicht mehr dort nachgesehen. Facebook war tot. So tot wie die armen Seelen in diesem Massengrab am Isfjord.
»Was meinst du?« Miranda wischte immer noch auf ihrem Handy herum. Offenbar suchte sie weitere Schauernachrichten, die sich mit jener deckten, die sie gerade vorgelesen hatte.
»Also …« Lyra räusperte sich, ihr Gedanke hatte sich gerade noch schlüssig angefühlt, aber nun. »Ich kenne das nur aus Twilight , aber vielleicht ist es in der realen irren Welt ähnlich.« Sie machte eine Pause. Irgendwie klang das verdammt schräg.
»Rück schon raus, Kätzchen!«, machte Miranda ihr Mut und schaute von ihrem Handy auf.
»Also wenn die magische Welt in Gefahr ist, und das ist sie gerade, wenn also …« Sie rieb sich die Stirn. Es fiel Lyra immer noch schwer, sich zu konzentrieren. Der hohe Blutverlust und vier Tage Koma hätten bei normalen Menschen wahrscheinlich einen bleibenden Hirnschaden verursacht. Na ja, zum Glück war sie kein Mensch und nicht normal. Dennoch waren die Folgen des Traumas spürbar. Die Kopfschmerzen ließen langsam nach, die Lebensgeister kehrten zurück, nur in ihrem Hirn war immer noch ein großer Haufen Watte.
»Geht es dir schlechter?«, fragte Dagur besorgt.
Lyra seufzte und schaute zu den Zwillingen. »Nee, alles gut. Das wird schon. Also, was ich meine …« Sie setzte sich aufrecht hin und zwang sich, den Gedanken festzuhalten und klar zu formulieren. »Miranda, du sagtest, dass dieses hohe magische Gericht nicht direkt einschreiten darf, weil die Götter im Spiel sind. Richtig?«
Ihre Tante nickte und schenkte Lyra jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. »Richtig. Der Exempli Gratia Magicis darf sich nur einmischen, wenn …« Jetzt schien bei Miranda der Groschen gefallen zu sein. »Na klar, Kätzchen! Du hast vollkommen recht. Die Mitglieder des Hohen Rates dürfen nur einschreiten, wenn jemand aus der magischen Welt Mist gebaut hat. Nun, das ist jetzt wohl mehr oder weniger amtlich. Götter hin oder her, es ist ihre Pflicht, jetzt einzuschreiten.« Wieder wischte Miranda hektisch über das Display ihres Smartphones. »Ich werde die Artikel gleich mal deiner Großmutter schicken. Mal sehen, was sie sagt.«
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