„So wie ich das sehe, führen Sie momentan ja ein recht beschauliches und angenehmes Leben. Sie dürfen eine Katze versorgen - übrigens ein wirklich schönes Tier, wenn ich das sagen darf. Sie halten sich seit längerer Zeit auf Level 3, wodurch Ihnen einige Möglichkeiten zur freien Entscheidung eingeräumt werden. Sie haben sogar ein Klavier! Na gut, das ist Ihnen nun wohl zum Verhängnis geworden, aber abgesehen von dem bedauerlichen Vorfall vor zwei Jahren machen Sie sich, so weit ich das mitverfolgen konnte, wirklich sehr gut.“
Und da ist er wieder, der geflügelte Begriff des „bedauerlichen Vorfalls“, der scheinbar ein fester Bestandteil der Regierungssprache im Zusammenhang mit unerwünschtem Verhalten geworden ist. Hätte sie eine andere Umschreibung gewählt oder diesen Teil einfach ganz ausgespart, hätte ich mich sicher weiter von ihrer ruhigen Stimme, dem warmen Tee und dem leichten Vanille- Duft einlullen lassen.
Aber beim Klang dieser zwei Worte schrillen sofort sämtliche Alarmglocken in meinem Kopf und mein Körper nimmt intuitiv eine Abwehrhaltung ein. Kritisch mustere ich mein Gegenüber und erkenne, dass ihre wohleinstudierte Körperhaltung und das freundliche Lächeln durch ihre kalten, berechnenden Augen, die mich ununterbrochen taxieren, Lügen gestraft werden.
So ist es auch kein Wunder, dass ihr meine körperliche Reaktion auf ihren kleinen Vortrag nicht entgeht. „Meine Liebe,“, setzt sie mit samtweicher Stimme wieder an und legt ihre Hand beruhigend auf meine Finger, die ich flach auf die Tischplatte drücke, um meiner Wut ein Ventil zu bieten.
„Ich möchte Sie wirklich nicht vor die Wahl stellen müssen. Es wäre doch zu schade, wenn wir Sie aufgrund dieser kleinen Verfehlung aus dem T-I-E-R-Programm nehmen müssten.
Wer weiß, wo Ihre arme Katze dann hinkäme. Es gibt ja wirklich schlechte Menschen da draußen.“
Trotz der warmen Worte ist die Drohung darin wohl das Ehrlichste, was ich bisher von der guten Frau Doktor gehört habe.
„Sie werden doch sicher vernünftig sein und uns bei dieser wichtigen Sache unterstützen, oder?“
Meine Gedanken schweifen wieder zu dem Brief, der seit drei Tagen anklagend auf meinem Küchentisch liegt:
„Sehr geehrte Bürgerin, sehr geehrter Bürger,
mit Bedauern haben wir Ihre Absage zur Kenntnis genommen, mit welcher Sie die einmalige Chance auf eine Teilnahme an unserer Repro-Studie ausgeschlagen haben. Wir sind uns beinahe sicher, dass Ihnen der massive Nutzen unserer Forschung nicht vollumfänglich bewusst ist. Daher möchten wir Sie bitten, innerhalb der nächsten 48 Stunden bei uns vorstellig zu werden, sodass wir Ihnen die Wichtigkeit unseres Unternehmens persönlich näher bringen können.
Mit den besten Grüßen,
Doktor Elsa Dorsch und Team“
Ich hatte - höflich ausgedrückt - davon abgesehen, vorstellig zu werden oder in anderer Form auf diese Farce zu reagieren.
Wie gesagt, bin ich generell eher nicht der Typ Mensch, der sich besonders stark für Wissenschaft, Forschung oder irgendwelche Studien begeistern kann. Aber selbst, wenn dem so wäre, käme eine Teilnahme am neuesten Regierungsprojekt, dem sogenannten Reproduktions- oder kurz Repro-Programm, für mich niemals in Frage.
Ziel des Programmes ist es, die Anzahl der emotionalen Bindungen, die ein Bürger Zeit seines Lebens eingehen könnte, noch weiter zu minimieren und diese im Bestfall komplett auszumerzen. Einen kleinen, aber bedeutenden Teil der zwischenmenschlichen Interaktion kontrolliert der Staat aktuell nämlich noch nicht: die Fortpflanzung verläuft noch auf dem natürlichen Wege. Auch das Großziehen der Früchte dieser ursprünglichsten aller Interaktionen liegt aktuell wie gehabt in den Händen der Eltern. Das birgt natürlich ein hohes Potenzial für emotionale Bindungen mit einer Vielzahl möglicher Bezugspersonen: dem jeweiligen Partner, den Eltern, den Kindern und gegebenenfalls sogar noch Geschwistern. Und das Ganze geht dann auch noch wild den Stammbaum hoch und runter.
Ich fand die Vorstellung, feste Wurzeln zu haben, immer sehr beruhigend und irgendwie erdend. Der Regierung ist diese ganze Verästelung aber schon lange ein Dorn im Auge und mit dem Repro-Programm erhofft sie sich, diesen nun endlich zu ziehen.
Zunächst soll es sich hierbei nur um eine Art Studie handeln, die bei Erfolg dann nach und nach auf das Leben aller Bürgerinnen und Bürger übertragen werden soll, bis der aktuelle Prozess nicht mehr vonnöten ist.
Als ersten Schritt bittet die Regierung daher nun einige in Frage kommende „Probanden“ im Alter von 20 bis 30 Jahren sich je nach Geschlecht entweder zu einer Samenspende oder zu einer 10-monatigen Vermietung des eigenen Uterus bereit zu erklären.
Um die Kinder, die im Rahmen des Programms „gezüchtet“ werden, muss man sich hinterher selbstverständlich nicht kümmern.
Außerdem erhält man eine kleine Vergütung für seine Mühen und den teilnehmenden Frauen wird eine umfassende medizinische Versorgung durch absolutes Top-Personal versprochen.
Argumente, die mich, gelinde gesagt, nicht vollends überzeugen konnten.
Die unpersönliche Anrede zu Beginn des Schreibens, ließ darauf schließen, dass ich nicht die einzige glückliche Empfängerin eines solchen war und ich fühlte mich daher zumindest in guter Gesellschaft als ich dem stummen Stück Papier meinen Mittelfinger entgegen schleuderte.
Mir war schon irgendwie klar, dass die Sache damit wohl nicht vom Tisch war, ich hatte die Entschlossenheit des werten Forschungsteams aber ganz offensichtlich bei Weitem unterschätzt.
Ein dummer, naiver Fehler, der mir sicher nie wieder unterlaufen wird. Diese späte Erkenntnis konnte mich nur leider nicht aus meiner aktuellen Lage retten.
Hier war diplomatisches Geschick gefragt. Nicht gerade meine Stärke, aber ich musste es zumindest versuchen:
„Sehen Sie, Frau Doktor Dorsch,“, ich hatte mal irgendwo gelesen, dass es half, die Wortwahl des Gesprächspartners zu kopieren, um den Eindruck eines gewissen Grundkonsens zu erwecken.
„Tatsächlich habe ich einige Fragen zu Ihrem Forschungsprojekt, die ich gerne mit Ihnen erörtern würde, wenn es Ihnen recht ist.“
Die Wissenschaftlerehre war immer der größte Schwachpunkt meiner Mutter gewesen. Damit konnte ich sie auch im schlimmsten Streit immer ködern.
Zu meinem Glück ist mein Gegenüber zumindest in dieser Hinsicht ähnlich gestrickt.
Der starr auf mich gerichtete Blick hellt sich auf und das sonst so kontrollierte Sprachrohr der Regierung gleicht plötzlich eher einer aufgeregten Einser-Studentin, die ihren Lieblingsprofessor von der bahnbrechenden Tragweite ihrer letzten Erkenntnisse überzeugen möchte.
„Sehr gerne. Dann schießen Sie mal los.“
Der kleine, schwarze Pager auf dem Tisch zwischen uns gibt ein beharrliches Brummen von sich und stoppt meine verzweifelte Suche nach einer passenden, nicht beleidigenden Frage zum neuesten Hirngespinst der Regierung.
Mit einem genervten Kopfschütteln greift Dr. Dorsch danach, wirft einen Blick auf das Display und springt urplötzlich auf. Dann scheint ihr wieder einzufallen, dass sie nicht alleine ist und wie um ihren plötzlichen Gefühlsausbruch zu relativieren streicht sie gelassen ein paar unsichtbare Krümel von ihrem teuren Pullover. „Entschuldigen Sie bitte“, sagt sie gefasst. „Es gibt eine dringende Angelegenheit, derer ich mich offensichtlich selbst annehmen muss.“
Sie wendet sich ab und geht mit großen Schritten in Richtung Eingangsbereich. Auf halber Strecke dreht sie sich noch einmal kurz um:
„Ich schicke jemanden, der Sie in Ihr Zimmer begleitet. Morgen nach dem Frühstück werde ich mir die Zeit nehmen, all Ihre Fragen in Ruhe zu beantworten.“
Damit klackert sie energisch weiter zur Tür und, bevor ich meine Stimme wiedergefunden habe, fällt diese klickend ins Schloss.
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