Weil ich diese und noch einige andere Wahrheiten kenne, setze ich nun alles daran, sie auch der restlichen Bevölkerung begreiflich zu machen. In den letzten 10,5 Monaten habe ich all meine Zeit und Energie dafür eingesetzt, mich bestmöglich auf diese Chance vorzubereiten.
Denn eins ist klar, wenn meine Mission scheitert, wenn ich scheitere, wird das die Menschheit weit mehr kosten als sie aktuell ermessen könnte.
22.01.2049
Ich sitze auf der Fensterbank meines 10qm Wohnzimmers in meiner 40qm Wohnung. Standardgröße für einen Level-3-Bürger.
Level 3 bedeutet, dass ich mich im Großen und Ganzen an die Regeln halte und keine größeren Probleme mache. Ab und zu leiste ich mir den ein oder anderen Ausrutscher, aber ich verschwinde damit noch in der Masse der Durchschnittsbevölkerung.
Level 3 bedeutet, ich stehe nicht unter ständiger Beobachtung, aber es kann unangekündigte Kontrollen geben.
Level 3 bedeutet, dass ich bei unerwünschtem Verhalten nicht sofort einkassiert, sondern erst einmal nur ermahnt werde. Selbstverständlich darf ich dabei gewisse Grenzen nicht überschreiten. Einige Verhaltensweisen würde man selbst einem Level 1 nicht durchgehen lassen.
Level 3 bedeutet auch, dass ich mir das Buch, das um Aufmerksamkeit heischend auf meinen Knien ruht, nicht selbst aussuchen durfte. Diese mitreißende Abhandlung über Wurmlöcher und Zeitreisen wurde mir mit meinem monatlichen Lektüre-Paket und den freundlichen Worten „Bitteschön! Extra für Sie ausgewählt! Ihre Bücherlieferung des Monats!“ überlassen. Irgendwie schaffen es die Boten immer, dabei tatsächlich den Eindruck zu erwecken, etwas ganz, ganz Tolles vor der Türe abzustellen. Ich habe noch nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen, aber ich frage mich, ob sie zumindest den Anstand hätten, betreten zu Boden zu schauen, wenn sie einem dabei direkt gegenüber stünden.
Ich hatte mir fest vorgenommen, heute die magische 10-Seiten-Hürde zu knacken, aber ein heutzutage äußerst seltenes Naturspektakel bietet mir nun Gott sei Dank eine passable Ausrede, das auf später zu verschieben. Wie gebannt sitze ich vor dem Fenster, beide Hände um eine schöne Tasse Tee verschränkt, und starre die kleinen weißen Flocken an, die elegant zu Boden sinken. Schnee!
Gibt es einen besseren Grund, um alles stehen und liegen zu lassen? Ich kann mir keinen vorstellen. Ich nehme einen Schluck von meinem köstlichen Heißgetränk und kuschele mich noch tiefer in meine übergroße Strickjacke.
Den Tee darf man sich als Level 3 zumindest selbst aussuchen. Natürlich nicht die genaue Sorte, aber zumindest die Geschmacksrichtung darf man angeben und meistens wird dies dann auch berücksichtigt.
Vor 2 Jahren hatte mich ein „bedauerlicher Vorfall“, den ich am liebsten aus meinem Gedächtnis löschen würde, kurzzeitig auf Level 4 zurückgeworfen. In dieser Zeit durfte ich die Bekanntschaft einiger äußerst spannender Tee-Kreationen machen. Vanille-Pudding-Plunder war hier nur eine unter vielen fragwürdigen Innovationen. Aber diese Erfahrung war definitiv eine große Motivation, sich an die Regeln zu halten. Auf jeden Fall deutlich motivierender als die Ermahnungen diverser Beamter, die ganz tief in ihren Farbkasten der 100 verschiedenen Schwarztöne gegriffen hatten, um mir eine möglichst triste Version meiner Zukunft auszumalen. Bei dem Gedanken an diese wundervollen Sitzungen kann ich ein sarkastisches Lächeln nicht unterdrücken.
Aber das ist lange her und jetzt habe ich zumindest die Möglichkeit, es mir an kalten Winternachmittagen in meiner Wohnung gemütlich zu machen und einen Tee zu trinken, der mir nicht entgegen schreit: „Trink mich! Ich bin ein verwunschenes Stück Kuchen!“.
Mein Blick streift über das Klavier. Ein seltener Luxus, den ich mir hart erkämpft habe. Natürlich unter der Voraussetzung, dass ich mich strengstens an die geltenden Vorschriften zum Besitz eines Musikinstrumentes halte. Aber vielleicht könnte ich ja nur ganz kurz und ganz leise... Meine Nachbarn würden mich sicher nicht verraten und eine Kontrolle um diese Zeit ist äußerst unwahrscheinlich.
Ich fasse mir also ein Herz, stelle meinen Tee ab und setze mich auf den alten Klavierhocker, bei dessen Anblick mich jedes Mal ein schlechtes Gewissen überkommt, weil ich den abgewetzten roten Samtbezug immer noch nicht habe erneuern lassen. Meine Finger finden die Tasten wie von selbst und ich lasse mich von ihnen mitreißen und fliehe in meine eigene kleine Welt aus Melodie. „...I say love, it is a flower...“
Ich breche abrupt ab, als jemand wütend gegen meine Wohnungstür hämmert. Starr vor Schreck sitze ich da und sehe zur Tür, die unter den Schlägen erzittert. „Öffnen Sie die Tür! Auf der Stelle!“, meldet sich nun auch eine befehlsgewohnte Stimme dazu.
Mit schlotternden Knien stehe ich auf und schaffe es irgendwie aufrecht zur Tür zu gelangen und meine zitternden Hände dazu zu bewegen, diese zu öffnen.
Vor mir türmt sich ein uniformierter Berg von einem Mann auf und schaut von oben auf mich herab, als wollte er mich unter seinen Armeestiefeln zerquetschen. „Habe ich hier gerade Musik gehört?“, fragt er. Wohl eher eine rhetorische Frage, die ich sicherheitshalber ignoriere. Ich weiß, hierauf gibt es keine Antwort, die mir irgendwie helfen würde, heil aus dieser Situation herauszukommen.
Er mustert mich kurz und nimmt mein Schweigen als ausreichende Bestätigung zur Kenntnis. „Würden Sie bitte mit uns kommen?“, fordert er mich auf. Die weiteren Beamten, verschwinden beinahe vollständig hinter seinen breiten Schultern und waren mir bis dahin gar nicht aufgefallen. Warum tauchen hier vier von denen auf einmal auf?, schießt es mir durch den Kopf. Das kann keine normale Kontrolle sein.
Mein Blick fällt auf den Brief, den ich am Morgen wieder unbeantwortet und mit einem verächtlichen Schnauben auf dem Küchentisch zurückgelassen habe und das Blut in meinen Adern ist kurzzeitig unentschlossen, ob es lieber vor Schreck gefrieren oder vor Wut kochen sollte.
„Hören Sie mir überhaupt zu? Sie sollen mitkommen! Jetzt!“, bricht es aus meinem cholerischen Gegenüber heraus und er packt mich grob am Arm.
In dem Moment springt ein wütendes Fellknäuel vom Kühlschrank direkt in sein rot angelaufenes Boxer-Gesicht und beschert ihm ein paar hübsche Furchen unter dem rechten Auge, das ohnehin schon von einer unansehnlichen Narbe geziert wird. Er zuckt nicht mal mit der Wimper, packt meine arme Katze Audrey noch im Flug am Nacken und reicht sie einem seiner Kollegen. „Wegbringen“, sagt er nur.
Meine Schockstarre löst sich in Luft auf und ich schreie verzweifelt: „Nein! Ich bin im Programm! Ich darf eine Katze haben!“.
Das T-I-E-R-Programm ist, wie ich mit widerwilliger Anerkennung zugeben muss, einer der clevereren Schachzüge der Regierung. Offiziell gilt es als ein Instrument zur Unterstützung und Belohnung der braven Bürger, die sich aus den unteren Leveln herauf gearbeitet haben. Es soll sie belohnen und in ihrem tatkräftigen Interesse und Engagement zur Re-Integration unterstützen.
Es gibt sicher einige Leute - vor allem in den oberen Leveln -, die sich von dieser geschickten Marketingstrategie überzeugen lassen und das Ganze als die vorbildlich altruistische Institution betrachten, als die es ihnen verkauft wird. Es wurde aber auch ganz klar kommuniziert, dass ein Tier dem jeweiligen Versorger jederzeit, ohne Angabe von Gründen wieder abgenommen oder ausgetauscht werden kann. Angeblich dient dies zur Reduzierung des Abhängigkeits-Potenzials.
Jeder mit einem Fünkchen Verstand und minimaler Geschichtskenntnis hat aber wohl sofort begriffen, dass es sich dabei eher um ein äußerst praktisches und eigennütziges Mittel handelt, die benannte Zielgruppe besser unter Kontrolle halten zu können und gleichzeitig ein paar störende Streuner von den Straßen zu holen. Zwei Fliegen mit einer Klappe sozusagen.
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