Der Magister mochte das nicht länger mit ansehen und hatte nur einen Gedanken - das Kind. Er musste es retten, also erkundigte er sich nach ihm.
„Welches Kind?“, fragte daraufhin der Mönch verwundert.
„Das Kind seiner Tochter. Sie gab an, es wäre bei ihm.“
„Hier? Das ist unmöglich! Seht doch selbst! Hier ist kein Kind und war es auch nie.“
Der Magister war für einen Moment wie vor den Kopf geschlagen, bat dann aber darum, mit ihm allein zu reden. Es würde sich sicher alles schnell klären.
„Allein? Aber Dominus, er wird wieder …“
„Silentium! - Was ich zu sagen habe, geht nur ihn an! Und jetzt nehmt ihm endlich dieses Ding ab, ihr bringt ihn ja um!“
Widerstrebend folgten die Brüder und befreiten ihn von der Klammer. Kaum hatten sie ihn verlassen, schloss der Gast die Tür und schob den Riegel vor. Dann wandte er sich dem Alten zu, der ihn noch immer irrsinnig anstarrte.
Plötzlich aber, in einem Moment der Unachtsamkeit, ergriff dieser eine Flasche. Doch bevor er sie werfen konnte, trat sie ihm sein Gegenüber aus der Hand.
Mit dem Knie drückte er ihn zu Boden, packte ihn am Kragen und versetzte ihm zwei schallende Ohrfeigen. „Wagst du das noch mal, schlage ich dich tot!“, drohte er ihm an.
Dann aber, als käme er zur Besinnung, straffte er seine Soutane und setzte sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Er legte den Hut beiseite und schlug die Beine übereinander.
„Hör zu, du Narr, was ich dir zu sagen habe“, begann er. „Deine Tochter ist als Hexe überführt und ich habe ihr die letzte Ölung gegeben. Sie bat mich darum, mich ihres Kindes anzunehmen, und jetzt kann ich auch verstehen, warum. Also, wo ist es?“
„Ich weiß es nicht, oh, ich weiß es nicht“, jammerte der Alte immerfort und massierte seine schmerzende Hand, die durch den Tritt offenbar verletzt wurde.
Das befremdete den Besucher. Entweder er begreift nicht oder er misstraut mir, dachte er und beschloss, deutlicher zu werden.
„Hör zu, Josef Schneidewind. Ich habe dir eine Frage gestellt und erwarte eine Antwort. Anderenfalls kann ich dir ja auch das Brett wieder umlegen. Wie würde dir das gefallen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Willst du mich auf den Arm nehmen?“
„Nein, aber wenn ich es doch nicht weiß?“
„Was soll das heißen? War es etwa gar nicht hier?“
„Ich weiß es nicht, mein Fürst, wirklich nicht!“
Da platzte dem Magister der Kragen und er forderte ihn auf, sich endlich zusammenzunehmen, immerhin ginge es um den letzten Wunsch seiner Tochter, und der sollte ihm heilig sein.
Daraufhin kicherte der Alte, was den Besucher verärgerte. Er wiederholte seine Frage. Als der aber nicht zu kichern aufhörte, packte er ihn am Kragen und schüttelte ihn so heftig, daß ihm die Zähne klapperten.
„So versteh‘ doch. Ich muss dem Kind helfen!“ Schon wollte er ihn erneut schlagen, hielt aber verdutzt inne. „Wieso nennst du mich Fürst?“
„Das wisst Ihr doch genau.“
„Was weiß ich genau?“
Mit einem Male erstarrte der Alte, wurde bleich wie eine Wand und meinte, sie wäre hier, direkt hinter ihm.
„Wer ist hier? Wen meinst du?“ Der Magister drehte sich in die Richtung, wohin er zeigte, konnte jedoch nichts erkennen.
„Niemand ist hier!“, sagte er.
„Doch! Dort drüben, neben dem Fenster! Sie lächelt uns an!“
Erneut wandte sich der Magister um, konnte aber wiederum nichts entdecken.
„Nimm dich endlich zusammen und beantworte meine Frage!“, schrie er ungehalten.
„Ich darf es aber nicht! Sie verbietet es mir!“
„Niemand verbietet es dir! Und jetzt rede endlich, du Lump!“
Da kicherte dieser Narr erneut: „Ach, so ist das. Jetzt verstehe ich. Ihr habt sie verführt in der letzten Nacht. Und jetzt plagt Euch das Gewissen.“
Der Besucher war jetzt völlig verdutzt. Er verstand das nicht. Selbst wenn dieser Vorwurf zutraf, schockierte ihn der Umstand, dass er davon wusste.
Aber das war Zufall, nichts als ein dummer Zufall, dachte er und hatte Mühe, sich zusammenzunehmen.
„Immer, wenn Vollmond ist, sind ihre Kräfte am stärksten“, erklärte der Alte augenzwinkernd. „Aber Ihr habt Euch in ihr getäuscht, nicht wahr? Habt geglaubt, es wäre nur mal so, hahaha!“
„Interessant, was du so erzählst.“
„Sie hat Euch auserwählt. Das ist Euer Verderben. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Euch holen wird. Ihr werdet sehen“.
„Lass‘ diesen Unsinn. Sag‘ mir lieber, wo das Kind ist“, fuhr ihn der Magister erneut an.
„Kindlein hier und Kindlein da, hahaha. Wer vermag es schon zu finden in diesem ganzen Trallala.“
Das Gesicht des Gastes verfinsterte sich. Dann verlor er die Beherrschung. Blitzschnell zog er die Misericordia aus seinem Ärmel und drückte sie ihm unters Kinn. „Du sagst mir auf der Stelle, wo es ist …“
Jetzt endlich schien der Alte zu begreifen, wie ernst es dem anderen damit war. Augenblicklich kam Todesangst in seine Züge und er begann zu wimmern: „Ich schwöre es, edler Camerarius, sie hat kein Kind. Sie hat auch nie eines besessen. Das ist alles gelogen.“
„Warum sollte Sie das tun?“
„Das fragt Ihr mich?“, schrie der Alte plötzlich auf und klopfte sich energisch gegen die Brust, ungeachtet des Messers an seiner Kehle. „Ihr wolltet doch belogen werden. Der ganze Prozess war eine einzige Lüge! Hauptsache, es passt ins Protokoll!“
„Ach, du bist nicht bei Verstand.“ Der Magister stieß ihn angewidert fort. Er war so durcheinander, dass er gar nicht merkte, wie er aufstand und voller Unruhe im Zimmer auf- und ablief. Oh Gott, all seine Visionen und Träume begannen zu zerbrechen, kein Kind, kein Glück, so einfach war das. Zurück blieb nur ein Scherbenhaufen. Schon dafür sollte er ihm den Dolch in den Kiefer rammen.
Er hätte nicht sagen können, was jetzt in ihm vorging. Er wusste nur eines, dass er es nie wieder erleben mochte.
„Was hat das damit zu tun? Ich meine, das macht doch keinen Sinn. Wieso sollte sie mich mit dem Kind belügen? Das hat doch auf den Tatvorwurf keinen Einfluss?“
„Alles, was sie sagt und tut, ist gelogen, hat aber dennoch Einfluss. Habt ihr das noch nicht bemerkt?“
Er blieb stehen und sah ihn entgeistert an. „Wie meint du das?“
„Sie ist eine Hexe.“
Dieser Satz kam so unerwartet, dass es ihm die Sprache verschlug.
„Ja, wie denn? .. .Natürlich ist sie das. Deswegen wird sie ja auch brennen. Nur wüsste ich gern die Wahrheit, die ganze Wahrheit, meine ich“, korrigierte er sich, darüber erschrocken, sich so plump verfangen zu haben.
„Hahaha, die Wahrheit ist die größte Lüge. Und wenn Ihr mich zu Tode prügelt, ich weiß sie nicht. Niemand weiß sie, außer Marie selbst. Aber sie wird darüber nichts verraten, weil sie einen Eid geschworen hat.“
„Einen Eid, auf wen?“
„Auf ihren Herrn.“
„Welchen Herrn?“
„Ihren Fürsten.“
Der Magister verstand das alles nicht. Wie konnte man sich nur so verändern? Dabei hatte er im Prozess noch ganz anders geklungen, nämlich wie ein Vater.
Er nahm eine würdevolle Haltung an und hatte alle Mühe, seine Abscheu zu verbergen. „Du solltest dich schämen, Josephus Schneidewind. Der bist du doch, oder? Manchmal denke ich, aus dir spräche ein ganz anderer.“
„Vielleicht bin ich das? Wer kann das wissen, hihihi, womöglich der Leibhaftige selbst?“
„Du jämmerlicher Wicht, opferst dein eigenes Kind! Aber selbst eine Verworfene hat ein Recht auf Verständnis und als aufrechter Christ ist es meine Pflicht, ihr beizustehen.“
„Oh, wie edel von Euch. Was glaubt Ihr damit zu erreichen?“, fragte der Alte mit schiefem Lächeln. „Ihr seid ihr doch schon längst verfallen und wisst es gar nicht. Ich bedauere Euch!“
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