1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Also besteht die Möglichkeit, dass es Briefe gibt von diesem Äppli. Wenn wir sie finden, untermauern wir unsere These, dass es Sarah ist, die sich gemeldet hat. Würdest du…. oder hättest du die Kraft, in dem Koffer nachzusehen?“ Er nahm einen Schluck Wein.
Klara stocherte weiter auf ihrem Teller herum. „Ich kann mich erinnern, dass meine Schwester damals ein Tagebuch geführt hatte. Ob es noch vorhanden ist, weiß ich nicht.“
Sie trank auch einen kleinen Schluck Rotwein. Ihre Wangen hatten eine rötliche Farbe, Paul nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie: „Du siehst unglaublich sexy aus … wenn du Rotwein getrunken hast, ich könnte dich jetzt hier im Lokal …..“
„Klar! Wenn sie in diesem Tagebuch ihren Äppli erwähnen würde, wären wir einen großen Schritt weiter,“ ignorierte sie schamhaft seine Bemerkung.
Der Kellner fragte, ob er noch eine Flasche Wein bringen sollte. Paul schüttelte den Kopf. Aber die Rechnung könnte er bringen.
Kaum hatten sie die Haustüre geschlossen, schob er ihren Rock nach oben. Klaras Reaktion war ein herzhaftes Quieken, was ihn noch mehr antörnte. Er hob sie hoch, warf sie über seine rechte Schulter und trug sie ins Wohnzimmer und legte sie auf den Teppich.
Sie lachte laut… „lass uns ins Bett gehen, Paul, bitte….“
„Nein, hier bleibst du jetzt…“ befahl er, und seine Stimme hörte sich an, als wäre Widerspruch sinnlos.
Etwa eine Stunde später ging Paul in sein Arbeitszimmer, allerdings nicht der Tonbandstimmen wegen, sondern weil er auch noch einige Büroarbeiten für seine Läden zu erledigen hatte. Er schrieb ein paar Überweisungen für morgen und überprüfte seine Kontoauszüge, wobei für einige Momente seine gute Laune verschwand.
Sein Büro war dreißig Quadratmeter groß. Der riesige Schreibtisch aus 1,5 cm dickem Glas stand vor dem Fenster. Rechts standen seine Tonbandmaschine, zwei Lautsprecher und das Mikrofon. In der Mitte stand die Schreibmaschine. Links war ein freier Platz für sonstige Papiere, für seine Teetasse, das Telefon. Die Wände waren weiß getüncht. Bis auf fünf Worpsweder Keramikplatten und einem eingerahmten Spruch (Der Himmel hilft niemals solchen, die nicht handeln wollen, Sophokles 497-406 v.Chr.), sowie 3 Kupferstiche Tee aus 1790, waren sie ohne Behang. Linker Hand von der Eingangstüre stand ein großes Regal für seine Ordner. Auf einem kleineren Glastisch links befand sich das Faxgerät und der Fotokopierer. Als Lichtquelle dienten drei Bürolampen auf den Tischen.
Klara beschäftigte sich mit dem Gedanken, den alten Koffer zu öffnen – und die Vergangenheit wieder lebendig werden zu lassen. Zuerst aber dachte sie an den Liebesakt im Wohnzimmer auf dem Teppich. Er kam ihr etwas gewaltsam vor, aber nicht unbedingt unangenehm.
Sie ging nicht gleich auf den Dachboden, sondern setzte sich ins Wohnzimmer und überlegte. Sie musste die Barriere in ihrem Kopf überwinden, das war wichtig, für sie selber und auch für Paul. Je größer die Wahrscheinlichkeit war, dass Sarah zu ihr gesprochen hatte, desto kleiner wurde der Schmerz der Trennung, den sie neunzehn Jahre in sich hatte. Sarah lebt weiter, sagte sie sich immer wieder, sie hat sich gemeldet und sich zu erkennen gegeben mit dem Stichwort Äppli. Dreiunddreißig müsste sie jetzt sein. Seit dem Tod der Schwester erinnerte sie sich neunzehn Jahre lang an sie in einer trauernden Stille. Sarah existierte nur noch in Gedanken. Und jetzt plötzlich war sie wieder irgendwie existent!
Wer sollte das auf dem Tonband sonst gewesen sein? Wer?
Sie ging in den ersten Stock. Von da aus gelangte sie zum Dachboden, der als kleiner Stauraum genutzt wurde. Sie öffnete die Eingangsluke, holte die ausziehbare Leiter herunter und kletterte nach oben. Der Stauraum war niedrig, und sie musste sich bücken, um ein paar Meter zu den Koffern zu gelangen. Sie sah diesen rotbraunen Koffer auf den ersten Blick. Sie hatte damals jene letzten persönlichen Sachen hineingetan, die sie nicht wegwerfen, die sie aber auch nicht mehr betrachten konnte. Sie angelte den total verstaubten Koffer hervor und schleppte ihn zur Leiter. Dann stieg sie wieder vorsichtig herunter, ging ins Wohnzimmer und legte ihn auf den Fußboden. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr. Sie wischte den Staub und ein paar Spinnenweben ab und öffnete ihn. Vor ihr lagen die kärglichen Überreste eines vierzehnjährigen Lebens. Es waren Zeugnisse, Briefe, Sarahs Geburtsurkunde, ihr Kinderausweis, Freischwimmerzeugnis, ein paar Fotos von ihnen beiden und von der Schulklasse, und der , den sie zuletzt gelesen hatte.
Klaras Hände zitterten, als sie es sah. Es war ein rotes kleines Büchlein. Sie nahm es heraus, setzte sich auf die Couch und schlug es auf. Auf der Innenseite des Deckels stand mit verblasster Tinte in Sarahs Handschrift >Tagebuch von Sarah Schuster<, dann auf der rechten ersten Seite die Jahreszahl 1960. Da war sie dreizehn Jahre alt, dachte Klara. Sie konnte sich erinnern, dass sie sich gerne ins Zimmer zurückgezogen hatte und ins Tagebuch schrieb. Das war ihre kleine intime Welt, da standen mit Sicherheit ihre geheimen Gedanken, die selbst Klara nicht wissen durfte, und sie wollte sie auch heute noch nicht lesen. Sie blätterte weiter, sah die kleine nach links gerichtete Handschrift, suchte nur nach einem Namen, suchte nach Äppli. Die Buchstaben kamen ihr verschwommen vor, und es war schwer, sie zu übersehen und den Inhalt nicht wahrzunehmen. Sie spürte, wie ihre Augen nass wurden, und sie blätterte weiter. Plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ihre Schwester könne sie beobachten. Sie hielt für einen Moment inne, dann blätterte sie weiter. Erst sind es Wortfetzen und Daten – dann kam sie nicht umhin, ganze Sätze zu lesen.
Was könnte das wohl gewesen sein, da sie es nicht ausgeschrieben hat, fragte sich Klara.
<30.Juli 60. Hab gestohlen, hab Mutti 5 Mark aus der Geldbörse gestohlen weil ich Mitleid hatte mit den Justus Kindern, hab ihnen was zu Essen gekauft>
Oh Gott, dachte Klara, was war das damals für ein Theater, weil Mama fünf Mark fehlten. Ich habe nicht ahnen können, dass es Sarah war, und erst recht nicht, dass sie anderen damit geholfen hatte. Die Justus Kinder waren sehr arm, hatten kaum was zu beißen. Fünf Mark waren damals viel Geld, wenn man bedenkt, dass ein Arbeiter vielleicht achtzig Mark Wochenlohn hatte. Es hat nicht viel gefehlt, dann hätten wir gewaltigen Ärger bekommen. Aber letztendlich glaubte Mutter, sie habe das Geld selbst verloren.
Unter dem 1.August hatte Sarah plötzlich ein flammendes Herz gemalt.
< 3.August. Die Ferien sind zu Ende. Unser Urlaub in Ostermundingen war herrlich!> Wieder ein flammendes Herz, und Klaras Herz begann zu rasen. Sie blätterte die Seite um.
> Ein neuer Junge in der Parallel-Klasse, Albert. Er schwärmt von meinem Schwesterherz. Er ist ein bisschen eigenartig.<
Klara entsann sich. Albert war zwei Jahre älter als Klara, weil er sitzen geblieben war, außerdem stotterte er und war außergewöhnlich nervös.
> 8. August. Wie schön….. Ich denke immerzu an Äppli.<
Ihr stockte der Atem.
„ Ich denke immerzu an Äppli“
> 1.September. Die Eltern machen einen Aufstand, weil wir bis 10 Uhr wegwollten. Um 8 müssen wir daheim sein<
<4.September 1960, Äppli hat geschrieben, ich hab den Brief zehnmal gelesen und ihn unter mein Kopfkissen gelegt, Äppli ist soooo süß>.
Sie legte das Tagebuch zur Seite. Wir brauchen diesen Äppli gar nicht zu suchen, dachte sie, wir haben den Beweis in Sarahs Tagebuch. Nach ein paar Minuten stand sie auf und ging mit dem Tagebuch in Pauls Arbeitszimmer.
Er hatte seine Kopfhörer wieder aufgesetzt und lauschte und schrieb. Sie berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Paul drehte sich um und nahm die Kopfhörer herunter.
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