1 ...7 8 9 11 12 13 ...23 Klara legte den Beweis aufgeschlagen vor ihn hin. „Lies!“
Paul sah den Satz und nickte. „Voller Erfolg. Wir brauchen nur noch den Brief.“
Sie setzte sich auf den Stuhl. „Und wenn sie ihn zerrissen hat? Aus Angst vor den Eltern? Unser Vater war streng.“
„Ich glaube nicht mal, dass sie ihn zerrissen hat, Schatz. Vielleicht gut versteckt. Wir sollten ihn finden. Das Tagebuch an sich ist schon zweifellos ein gutes Indiz, aber der Brief wäre in diesem Zusammenhang der hundertprozentige Beweis.“
Klara musste ihm zustimmen. Sie musste in dem Koffer weitersuchen.
Während sie ins Wohnzimmer zurückging, bekam sie plötzlich wieder Schuldgefühle. Sie hatte sie jahrelang unterdrücken können, aber in dem Moment tauchten sie wie Kobolde aus der Schublade auf, jener Schublade, die Paul mit den Stimmen einen Spalt geöffnet hatte. Sie setzte sich auf die Couch. Schuldgefühle, weil sie, Klara, lebte und Sarah tot war? Schuldgefühle, weil die letzte Erinnerung ein hässlicher Streit war, bevor Sarah starb?
Und wieder kehren die Bilder von damals in ihr Gedächtnis zurück. Der Vater war mit Sarah und zwei Freundinnen (Anna und Ilona) am 17. August 1961 zu den Kahler Seen gefahren. Sarah musste beim Schwimmen einen Herzstillstand bekommen haben, wie die Ärzte später feststellten. Ihre Freundin Anna sah nur, wie sie plötzlich nicht mehr an der Stelle im Wasser war, an der sie noch eben gewunken hatte, etwa 20 Meter vom Ufer entfernt. Erst hatte Anna geglaubt, sie tauche, aber nach etwa 5 Minuten war sie immer noch nicht sichtbar. Der Vater kam gerade mit ein paar Bechern Limonade zurück, und Anna sagte es ihm. Die restlichen Ereignisse, wie man Sarah barg, wie sie und die Mutter davon erfuhren, verschwanden so tief in ihr Unterbewusstsein, dass sie keine Erinnerung mehr hatte.
Sie brühte sich einen neuen Tee auf, und während der fünf Minuten Ziehdauer stand sie in der Küche, ihre Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr.
Und es sollte noch eine Überraschung geben!
Mit der Teetasse ging sie wieder ins Wohnzimmer. Links vom Flur hörte sie Paul. Sie blätterte in dem Tagebuch weiter nach hinten, in der Zeit zurück. Dann sah sie den Eintrag: >6.September 1960. „Ekelhafter E.“.< Klaras Stirn bekam Falten, als sie das Datum las. Vaters Geburtstag. Es war die Feier zum 46. Geburtstag ihres Vaters Hannes. Sie erinnerte sich. Viele Gäste kamen an diesem Tag, Hannes Geschwister, Mutters Geschwister und deren Kinder. Was bedeutete der Ausdruck ? Sie fuhr ihre unsichtbaren Antennen aus. Da war etwas an diesem Abend. Sie dachte krampfhaft nach. Und dann kam die Erinnerung. E war die Abkürzung von Eckhard, Hannes` Bruder. Eckhard war Richter am Landgericht Frankfurt/Main. Ab irgendeinem Zeitpunkt veränderte sich damals die Situation. Sarah war anders, ihr Verhalten hatte sich geändert, sie war missmutig, gereizt, unausstehlich, aggressiv. Dann war sie plötzlich verschwunden. Die Gäste bemerkten es kaum, zumal es auf den Abend zuging und einige viel Alkohol getrunken hatten. Nur Vater und Mutter suchten verstohlen das ganze Haus ab. Dann fanden sie sie. Sarah kniete vor der Kloschüssel, war total betrunken, hatte gekotzt. Was war passiert? Hatte der Eintrag etwas damit zu tun? Dann fiel es Klara wie Schuppen von den Augen, und es lief ihr kalt den Rücken herunter. Eckhard hatte es auch bei ihr versucht! Und bestimmt an diesem Abend auch bei Sarah! Jetzt musste sie jenen anderen Abend in ihr Gedächtnis zurückholen, den sie am liebsten vergessen wollte. Es war etwa ein Jahr zuvor, Klara war 11 Jahre alt, als der Bruder ihres Vaters ihr an die Brüste und unter den Rock gegriffen hatte. Sie hatte sich so sehr gewehrt, dass er davon abließ. Nur seine hinterhältige Drohung, er werde es abstreiten und behaupten, sie habe ihn verführt und er würde es der ganzen Familie erzählen, hielt sie davon ab, es ihren Eltern zu berichten. Nur Sarah erfuhr es. Und ihre Reaktion war eigenartig. Eigentlich hätte sie neugierig fragen müssen, aber sie wandte sich plötzlich ab und wollte scheinbar von dem Thema nichts mehr wissen. Auch nachdem Klara nachhakte, blieb die Schwester zurückhaltend und introvertiert. Sie wollte auf keinen Fall darüber reden. Und dann fiel ihr ein, dass Sarah seit ihrem 10. Lebensjahr manchmal plötzlich verschlossen war, und sie nicht an sie herankam.
„ Ich weiß, was ihr Früchtchen in eurem Alter schon für perverse Gedanken im Kopf habt!“ hatte der Onkel damals immer gesagt.
Dann verlief es irgendwie im Sand. Der Onkel hatte sich dann im Jahre 1961 eine Villa in Kronberg gekauft. Sie erinnerte sich, dass sich die Eltern immer gefragt hatten, woher er das Geld habe, denn auch ein Richter verdiene nicht so viel, um sich eine Villa leisten zu können. Eckhard starb vier Jahre später an einem Herzinfarkt. Klara lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. Jetzt erst schien das Verhalten von Sarah irgendwie in diesem Zusammenhang erklärbar, wenn dieses Schwein auch an Sarah war.
Sie schlug das Tagebuch zu und suchte weiter nach einem Brief.
Aber ihre Gedanken machten wieder einen Sprung ins Jahr 1961, dem Todesjahr ihrer Schwester. Erinnerungen tauchten auf, die mit ihren Gefühlen zu tun hatten, mit jenen Gefühlen, die ein Mädchen in ihrem Alter damals noch gar nicht haben durfte, Liebesgefühle. Die Blue Diamonds sangen >Ramona< und Nana Mouskouri >Weiße Rosen aus Athen<, Sarahs Lieblingssong. Und auch an den Bau der Berliner Mauer erinnerte sich Klara plötzlich.
Dann gab sie das Tagebuch Paul zum Lesen.
5.
Es geschah unerwartet.
Es war Montag, der 20.Oktober um 22.10. Uhr.
Er hatte seine üblichen Einleitungsworte gesprochen: „Ich begrüße euch, heute ist Montag, der zwanzigste Oktober neunzehnhundertachtzig. Ich bitte um Kontakt. Ich begrüße Esther; vielleicht kann ich einen Verwandten von mir sprechen.“
Paul saß vor seinem Tonbandgerät. Konzentriert lauschte er in die Kopfhörer.
Klara hatte sich hingelegt, weil sie sich nicht wohl fühlte.
Auf dem Strommast draußen saßen nebeneinander ungefähr zweihundert schwarze Krähen. Die Tiere schienen alle in sein Fenster zu schauen. Einige putzten sich, andere wedelten mit ihren Flügeln, aber die meisten schienen sich nicht zu bewegen.
Er sah sie durch das Licht der Straßenlaternen.
Eine Tasse kalt gewordener Tee stand links auf seinem großen Schreibtisch.
Ein paar weiße Wolkenfetzen, bestrahlt vom hellen Vollmond, zogen lautlos vorbei. Im ganzen Haus war es still.
Die Stimme kam aus einer endlosen Weite und war doch so nah, als wäre die Person im selben Zimmer. Er hörte die zwei Worte: >Mörder - Huckepack <.
Paul erschrak, zuckte zusammen, riss den Kopfhörer herunter und stand blitzschnell vom Stuhl auf.
Im selben Moment spürte er einen Schmerz im Rücken, als bohre im jemand ein glühendes Eisen tief in die Haut.
Mit der linken Hand warf er die Teetasse um.
Er stand da und starrte auf die sich drehenden Spulen.
Das Adrenalin raste durch seine Adern.
Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb.
Die rechte Hand fuhr nach hinten zu seinem Rücken.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er das Band abstoppte.
Dann setzte er sich wieder auf den Stuhl, atmete hastig. Der kalte Tee bildete eine Pfütze neben seinem Notizbuch. Allmählich normalisierten sich seine Körperfunktionen wieder. Er drehte sich zur Türe um, als habe er ein Geräusch vom Flur her gehört; aber dort war nichts. Aus der Küche kam das gleichmäßige Ticken der Uhr. Aus dem Wohnzimmer kamen keine Geräusche.
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Dann spulte er das Band zurück. An der vermuteten Bandlaufstelle stoppte er es ab. Bevor er die Stimmen erneut abhörte, stand er auf und ging ins Klo, um zu pinkeln. Der Schock war ihm auch auf die Blase geschlagen. Aus der Küche holte er ein Wischtuch für den verschütteten Tee. Dann ging er zurück ins Arbeitszimmer, trocknete die Tischplatte ab. Der Schmerz im Rücken war weg. Er setzte seine Kopfhörer wieder auf, nahm seinen Kugelschreiber.
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