Routiniert entfernte sie ihre Fingerabdrücke vom Champagnerglas und den Gegenständen, die sie berührt hatte. Zum Schluss löste sie die Fesseln von seinen Handgelenken und befreite seinen Kopf von der Plastiktüte, die sie sorgfältig zusammenfaltete und zusammen mit ihren Strümpfen in ihre Handtasche steckte. Ohne noch mal einen Blick auf ihr Opfer zu werfen, verließ sie die Wohnung und verschwand unbeobachtet in der Nacht.
Ewa Zając erhob sich schwerfällig aus ihrem Bett. Ihr Spiegelbild, das ihr im Bad entgegenschaute, strafte die Bedeutung ihres Vornamens Lügen, denn Ewa stand im Hebräischen für „chajjah – lebendig“, aber das blasse Antlitz mit den trüben Augen wirkte alles andere als das. Die strähnigen, wie verfilzt wirkenden, blassblonden Haare verstärkten diesen Eindruck noch. Doch Ewa war diesen Anblick gewöhnt, sodass sie ihn kaum noch wahrnahm.
Lustlos nahm sie eine Dusche, peinlich darauf achtend, dass die Haare nicht nass wurden, denn für die Prozedur der Kopfwäsche hatte sie wie meistens keine Zeit. Nach dem Zähneputzen zog sie irgendetwas aus ihrem Kleiderschrank an. Farbe und Passform waren ihr dabei egal. Ihre Kleidung war ohnehin überwiegend zweckmäßig, nicht besonders modisch und in gedeckten Farben gehalten. Sie wusste, dass man sie im Büro für eine graue Maus hielt, doch die Einschätzung ihrer Person seitens der Kollegen war ihr egal. Dass man sie in ihrem Umfeld und auf der Straße kaum wahrnahm, machte ihr schon lange nichts mehr aus.
Ihr Frühstück bestand aus einer Tasse schwarzem Kaffee. Ihr mangelnder Appetit ließ gar nicht erst den Gedanken aufkommen, etwas zu essen. Außerdem konnte es nur von Vorteil sein, wenn sie nüchtern blieb, falls der Arzt, bei dem sie gleich einen Termin hatte, ihr Blut abnehmen wollte. Routiniert überprüfte sie alle Wasserhähne und Schalter des Herdes, bevor sie nach zweimaligem Umkehren die Wohnung verließ.
Die Praxis von Dr. Bronislaw Wysocki lag nur zehn bis fünfzehn Minuten entfernt von ihrem Wohnhaus, sodass sie kein Verkehrsmittel benutzen musste, was ihr sehr entgegenkam, da sie den Anblick fremder Menschen am frühen Morgen nur schwer ertrug.
Im Wartezimmer vertiefte sie sich aus demselben Grund in eine der speckigen Illustrierten. Den Inhalt des Gelesenen beziehungsweise Überflogenen hätte sie später kaum wiedergeben können, weil er sie nicht wirklich interessierte.
Als sie später das Sprechzimmer des Arztes betrat, traf sie der prüfende Blick eines freundlichen Herrn mittleren Alters mit ergrauten Schläfen und wachen Augen hinter seiner randlosen Brille.
»Was führt Sie zu mir, Frau Zając?«, fragte er eher geschäftsmäßig.
»Ich möchte, dass Sie mich noch einmal untersuchen, Herr Doktor. Irgendetwas stimmt doch nicht mit mir.«
»Haben Sie Schmerzen oder andere Beschwerden?«
»Nein, ich fühle schon länger nichts mehr. Das gilt nicht nur für meinen Körper, sondern auch für meine Umgebung. Ein Verkehrsunfall weckt bei mir keine Emotionen, und als meine Tante starb, ließ mich das weitgehend kalt.«
»Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie die Wohnung Ihrer Tante übernommen.«
»Ja, eine große Altbauwohnung, aber eigentlich nutze ich nur ein Zimmer.«
»Sind Sie viel allein?«
»Eigentlich die meiste Zeit. Außer im Büro, doch da nimmt man mich kaum wahr.«
»Warum gehen Sie nicht auf Ihre Kollegen zu? Vielleicht warten die nur darauf.«
»Andere Menschen geben mir nichts. Die Dinge, die ihnen wichtig erscheinen, interessieren mich nicht.«
»Verstehe, demnach leben Sie wie unter einer Glasglocke. Falls es Ihnen nicht gelingt, aus eigener Kraft, den Deckel zu heben, könnten Sie professionelle Hilfe annehmen. Es gibt ausgezeichnete Therapeuten in der Stadt …«
»Ich bin doch nicht verrückt. Würde man mich in eine Nervenklinik einweisen, brächte ich mich auf der Stelle um.«
»Niemand weist Sie gegen Ihren Willen ein. Es sei denn, Sie benehmen sich derart auffällig, dass Sie zur Gefahr für die Allgemeinheit werden. Es war auch nur ein Vorschlag, besser eine Empfehlung. Körperlich sind Sie gesund. Ihre Blutwerte sind normal. Ihre Beschwerden könnten psychisch bedingt sein. Gehen Sie unter Menschen, amüsieren Sie sich. Sie sind doch eine hübsche junge Frau, wenn Sie auch wenig aus sich machen, wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen.«
»Es kann nicht nur Modepuppen geben und Frauen, die wie mit einem Tuschkasten angemalt aussehen.«
»Natürlich nicht. Aber mir scheint, als ließen Sie sich etwas gehen. Essen Sie regelmäßig? Was haben Sie heute gefrühstückt?«
»Nichts, da ich annahm, Sie würden mir erneut Blut abnehmen.«
»Das wird nicht nötig sein. Wie gesagt, Ihre Werte sind in Ordnung. Körperliche Beschwerden haben Sie also keine?«
»Ich schmecke manchmal nichts. Und meine Arme fühlen sich mitunter an, als gehörten sie nicht mir.«
»Bitte ziehen Sie Ihre Bluse aus und setzen sich dort auf die Liege!«
Ewa tat, wie ihr geheißen, und ließ die Bewegung ihrer Arme klaglos geschehen.
»Ich kann keine Bewegungseinschränkung feststellen«, sagte der Doktor und drückte vorsichtig auf die Gelenke ihrer Hände. Ebenso auf bestimmte Punkte der Schulterpartie. Die Frage, ob ihr das wehtue, verneinte sie stets. »Die Gelenke sind nicht geschwollen, und der Rheumafaktor in Ihrem Blut war negativ. Demnach gibt es keine Anzeichen für eine rheumatoide Arthritis.«
»Ich habe ja auch keine Schmerzen, sondern eher ein Taubheitsgefühl. So taub, wie ich meiner Umwelt gegenüber bin. Mitunter empfinde ich mein Leben wie einen Film, an dem ich nicht beteiligt bin. Meine Nachbarn und Kollegen erscheinen mir fremd und wenig vertraut, fast unwirklich.«
»Haben Sie einmal daran gedacht, unterzuvermieten? Etwas Gesellschaft würde Ihnen guttun. Und wenn Sie ohnehin die Räume nicht nutzen …«
»Fremde Menschen in meiner Wohnung zu haben, ist für mich ein unerträglicher Gedanke.«
»Aber die bringen auch neue Eindrücke und Sichtweisen. Und Sie wären nicht allein … Denken Sie noch einmal über meinen Vorschlag nach. Ich gebe Ihnen eine Überweisung zu einem Neurologen mit. Ob Sie diese in Anspruch nehmen, bleibt Ihnen überlassen, aber ich rate dringend dazu. Und jetzt gehen Sie irgendwo frühstücken und etwas spazieren. Genießen Sie Ihren freien Tag. Oder gehen Sie shoppen und kaufen sich etwas Hübsches.«
»Es ist sinnlos, Sie verstehen mich nicht.«
»Ich bin auch nur ein praktischer Arzt, Frau Zając, und kein Nervenarzt oder Psychologe. Ein Kollege aus dieser Fachrichtung wird Ihnen besser helfen können.«
»Das glaube ich kaum, aber danke für Ihren Rat.«
»Gerne, und vergessen Sie nicht zu essen. Eine wohlschmeckende Mahlzeit wirkt manchmal Wunder. Gesättigt sieht man vieles in einem positiveren Licht.«
»Wenn Sie meinen …«
Ewa war ziemlich enttäuscht von ihrem Arzt. Und ganz gewiss würde sie sich nicht freiwillig in die Mühlen der Psychiatrie begeben. Das stand für sie fest. Den Rat bezüglich des Frühstücks und des Spaziergangs wollte sie hingegen annehmen, ohne die geringste Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Zustands.
Die Arztpraxis befand sich an einer der großen Schnellstraßen von Warschau, der Ost-West-Trasse, die seit 1991 Aleja Solidarności hieß. Ganz in der Nähe befand sich das große Einkaufszentrum Galeria Wileńska mit über hundert Geschäften. An der Ecke zur Targowa war ein Starbucks, das Ewa mit seiner anonymen Atmosphäre sehr gelegen kam. Dort nahm sie ein kleines Frühstück ein und ging anschließend planlos in das Einkaufszentrum. Eher desinteressiert betrachtete sie hin und wieder die Auslage eines der vielen Geschäfte.
Plötzlich fiel ihr eine Frau auf, die sich hinter ihr in der Schaufensterscheibe spiegelte und sie erstarren ließ, denn sie glich ihr in fataler Weise. Man hätte sie gut und gerne als ihre Doppelgängerin bezeichnen können, obwohl die Fremde ganz anders zurechtgemacht war und auftrat. Ihr schönes Gesicht war dezent geschminkt, und ihre goldblonden Haare, die in unzählige Locken gedreht waren, wippten lustig auf und ab. Gekleidet war sie modern, fast ein wenig auffällig, da ihre weiblichen Reize gut zur Geltung kamen. Zu der sehr engen, löchrigen Jeans trug sie eine fast transparente Bluse und eine weite Jacke. Auf hohen Hacken schritt sie selbstbewusst daher und registrierte jeden der bewundernden Blicke, vor allem die der Männer.
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