Anni Taint - Kurze Geschichten to go

Es ist Frühling und alles wächst in zartem grün, die Bäume, die Sträucher, die Blumen. Knospen bilden sich. Leichter feiner Regen fällt auf mich herab und die Sonne verlässt eine weiße Wolke. Ich sehe einen wunderschönen Regenbogen, der meine Lichtung einrahmt. Er vereint die Farben violett, blau, grün, gelb, orange und rot übergangslos. Ich bin glücklich. Der Sommer ist warm. Ich spüre wie die Wärme der Sonne mich erwärmt und meine Felsen diese Wärme speichern. Ich bin voller Energie und Lebenslust. Die Tage werden kühler und kürzer. Es ist Herbst. Die Blätter verfärben sich und die Tiere sammeln Vorräte für den bevorstehenden Winter. Schneeflocken rieseln aus den Wolken. Bald umhüllt mich eine dicke Schnee- und Eisdecke. Alles ruht und schläft. Auch ich bin ruhig und entspannt. Ich ruhe in mir voller Harmonie. Bald schon wird das erste Grün aus dem dahinschmelzenden Schnee wieder sichtbar sein. Alles wächst und gedeiht und auch ich spüre meine Energie im Fluss der Natur und des Lebens. Ich öffne meine Augen und schaue in den großen, leuchtenden Vollmond, umgeben von endlos vielen, funkelnden Sternen. Der Himmel ist fast weiß vor lauter Sterne. Ich gehe weiter meinen Weg zum Gipfel. Intuitiv wähle ich den richtigen Pfad. Standfest und voller Selbstvertrauen wandere ich entlang des schmalen Grates Richtung Gipfel. Und dann habe ich mein Ziel erreicht. Ich sehe das Universum um mich herum und blicke unter mir in die Täler. Ich breite meine Arme aus als würde ich die Welt umarmen. In diesem Augenblick geht die Sonne vor mir am Horizont auf. Sie leuchtet kurz purpurrot, dann orange. Ich spüre helles Licht und unendliche Liebe in mir. In diesem Moment fühle ich mich vereint mit allem, der ganzen Welt und dem Universum.

Um kurz vor 18:00 Uhr betrete ich das Großraumbüro im Hochhaus. Es riecht nach

Schweiß, säuerlich, Adrenalin- und Kortisol-Hormone bestimmen die stickige Büroluft. Ich blicke in müde, angespannte Gesichter und rote Augen treffen meinen Blick. Die Kollegen haben acht Stunden Kunden E-Mails bearbeitet oder erfüllten die Wünsche und lösten die Probleme der Geschäftsreisenden am Internet-Telefon. Sie haben eine Warteschleife nach der anderen angenommen. Schließlich bezahlen uns die weltweiten Konzerne nach unserer Erreichbarkeit. Ich, als Teilzeitkraft hatte heute frei und bin mit der Regionalbahn von zu Hause angereist. Das heutige Büromeeting trägt den Namen ‚Smart‘ und findet zeitgleich an allen Standorten in Deutschland statt. Unsere zwei Teamleader werden es gleich präsentieren bzw. mit uns erarbeiten. Zuvor wird kräftig durchgelüftet und es gibt vegetarische Wraps und rote Linsensuppe. Was hat sich das Management diesmal ausgedacht, frage ich mich. Die folgende PowerPoint- Präsentation handelt von Hierarchie-Abbau. Die Teamleader Position wird abgeschafft bzw. dreigeteilt in Client- Specialist, Performance- Coach und Operation- Liaison. Die Anzahl der Experten wird nicht erhöht. Jeder Teamleader soll sich für einen Bereich entscheiden und freie Stellen werden ausgeschrieben. Von uns Travel Consultants wird mehr Eigenständigkeit und Verantwortung gefordert. Jeder ist sein eigener Chef, sozusagen. Ich höre das Wort ‚Anarchie‘ von einer Kollegin. „Mehr Verantwortung also auch mehr Geld?“ Eine

Kollegin fordert wenigstens einen Inflationsausgleich.

In Arbeitsgruppen füllen wir die neue Idee mit Leben, indem wir unsere Fragen und Antworten auf Flip-Chart Bögen schreiben, die später von unseren ‚noch‘ Teamleadern vorgelesen werden. Viele Fragen stehen im Raum, unbeantwortet.

Wer ist Hauptansprechpartner, wenn eine Situation mit einem Kunden eskaliert? Wie kann mir jemand helfen, der sich an einem anderen Standort befindet, für rund 60 Mitarbeiter zuständig ist und mich gar nicht kennt? Wie weit geht meine Entscheidungsbefugnis? Darf ich Arbeitsanweisungen in Notfällen umgehen?

Mir fällt ad hoc das Kinder-Musical ‚Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat‘ ein. Frag doch einfach die Experten.-

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