„Also gibt es gar keine Piranhas?“
„Doch, doch“, bestätigte Papa.
Annika verdrehte die Augen. „Aber nicht hier bei uns! Hier sind höchstens Forellen drin oder Karpfen, die tun nichts!“
Das Brummen des Bootsmotors war nun deutlich zu hören. Die Nussschale hielt weiter auf uns zu und legte schließlich an.
„Was ist!“, fuhr uns der Mann, der es steuerte an. „Koffer her und los geht es!“
„Was jetzt?“ Papa war total durcheinander.
„Ihr seid doch die Familie, die zum Schloss will!“
„Ja, schon, aber ...“, wollte ich erklären, aber er fuhr dazwischen.
„Da steht es!“ Er zeigte auf ein Schild, das an einen Baum genagelt war und das wir offensichtlich übersehen hatten.
„Schloss Lossenbrink“. Tatsächlich. Der rote Pfeil zeigte auf das Wasser.
„Na, los jetzt, ich bring Sie hin!“ Der Mann schien ungeduldig zu werden.
Stefan kam jetzt echt ins Trudeln. „Und mein Auto, was wird denn damit? Das gibt es doch gar nicht. Was ist denn das hier für ein Mist?“
„Na, auf den Parkplatz damit und jetzt schnell!“
„Mein Auto lass ich nicht hier, das ist nagelneu. Einsteigen! Wir hauen wieder ab.“
Der fremde Mann grinste. „Wir schicken dann die Rechnung.“
Jetzt sah ich meine Felle davon schwimmen. „Ach komm“, flüsterte ich Stefan zu. „Das Auto ist doch versichert und wirklich neu ist es auch nicht. Wir haben keine Wahl.“
„Von Wasser stand da nichts auf der blöden Website!“
„Aber auch nichts von keinem Wasser, also los jetzt!“
„Wenn an meinem Auto auch nur ein Kratzer ist, wenn wir wiederkommen, dann ...“
„Dann melden wir es der Versicherung, nun komm schon!“
Er lenkte ein, ich hatte es geschafft. Er machte den Kofferraum auf, knallte unsere Sachen auf die Straße und fuhr sein geliebtes Auto zu den anderen. Dann hoben wir unser Gepäck in das Boot. Die nun anstehende Überfahrt machte mir etwas Sorgen. Josefine konnte noch nicht schwimmen. Aber ich suchte ihren Schwimmring, was nicht einfach war, und half ihr hinein. Wird schon schief gehen! Hinauslehnen wird sie sich jedenfalls nicht wegen der Piranhas. Und hoffentlich wird es Annika nicht wieder schlecht, dachte ich. Der Motor war ziemlich laut und das Boot schwankte verdächtig.
„Was ist das eigentlich für ein Fluss hier“, schrie Papa.
“Ist kein Fluss, ist ein See“, schrie unser Kapitän zurück.
„Was!“
„Schloss Lossenbrink liegt auf einer Insel.“ Er grinste unverschämt. Nun war es raus, na prima. Wir sollten drei Wochen, abgeschnitten von der Welt, zusammen mit jeder Menge Gespenstern Urlaub machen. Urlaub? Katastrophenurlaub!
„Wir könnten den Bootsmann umbringen und behaupten, es wäre keiner gekommen, um uns abzuholen“, flüsterte ich Stefan zu. Er schüttelte mit dem Kopf. „Das kannst du nie wieder gut machen, nie wieder. Nicht mit Geld und guten Worten!“
Ich zuckte mit den Schultern. Wenn man Männern ihr Lieblingsspielzeug wegnimmt ...
Schweigend fuhren wir ans Ufer. Die Straße ging hier einfach weiter. Wir zerrten unser Gepäck an Land und starrten hinauf. So etwa einige hundert Meter hin konnten wir ein Eisentor ausmachen, und oben auf dem Hügel über den Baumwipfeln waren so etwas wie Turmspitzen im Nebel zu erkennen. Ich wollte etwas zu unserem Kapitän sagen und drehte mich um. „Jetzt ist er weg!“ Ich konnte es nicht glauben. „Der ist weg, wo ist er denn hin?“ Immerhin war das Boot noch da.
„Kann es sein, dass wir hier mitten in der Wüste mutterseelenallein festsitzen und kein Schwein trägt und die Koffer da rauf?“, wollte Stefan wissen und stemmte die Hände erbost in die Hüften.
Ich setzte mich auf ein Gepäckstück. Die Kinder hatten Hunger und Durst und keine Lust mehr auf gar nichts. Aber ich hatte ja jede Menge kleine Seitentaschen mit Müsliriegeln und Getränkedosen vollgestopft, so konnten wir uns erst einmal stärken. Ich nahm mein Handy raus, um ein Taxi zu rufen. „Och, kein Netz, so ein Mist!“
Stefan fing wieder an, zu fluchen. Er kramte sein eigenes Handy heraus. Ein viel besseres als meins. Mit besserem Akku und besserem Empfang, wie er meinte. Aber er bekam auch kein Netz. Meine Schadenfreude war unbeschreiblich.
„Also, Koffer fassen, jetzt!“, befahl er. „Zweimal gehen wir nicht.“
Wir weiblichen Touristen krochen fast den Berg hinauf, weil uns das Gewicht der Rucksäcke und Koffer buchstäblich nach unten drückte. „Typisch Weiber, jeden Schrott habt ihr wieder eingepackt und Tonnen von Klamotten. Vielleicht sogar noch Bücher!“, motzte mein geliebter Ehegatte. Ich musste sofort an mein Lexikon und an den Psychoratgeber denken.
„Und Hunderte von Parfümflaschen und tonnenschwere Halsketten und was weiß ich noch alles.“
Hoffentlich gibt es was Ordentliches zum Abendessen, dachte ich, sonst wird das noch eine handfeste Depression.
Endlich am Tor, Pause. Die Kinder stöhnten, Stefan fluchte weiter. Ich stöhnte und fluchte.
Stefan wollte das Tor öffnen. Es knarrte, quietschte, knarrte noch mal und ... fiel um. Ich war einem Schreikrampf nahe. Was war das überhaupt für ein Tor. Zu einem Tor gehört doch ein Zaun oder eine Mauer oder wenigstens eine Hecke. Hier war aber nichts. Wir hätten das Tor zulassen sollen und einfach außen herum gehen können. Sah doch jeder, dass dieses verrostete Ding schon Jahrhunderte lang nicht aufgemacht worden war. Aber zur Strafe trampelten wir jetzt darüber, und zwar kräftig.
Endlich lichteten sich die Bäume, wir kamen auf den mit Kopfstein gepflasterten Hof und erblickten das Schloss in seiner ganzen Schönheit. So hatte ich es mir jedenfalls vorgestellt. Aber der Nebel auf der Website hätte mir eine Warnung sein müssen .
Es war unbeschreiblich. Vor uns stand ein wuchtiges düsteres Gebäude. Seitenflügel erstreckten sich nach links und rechts. Dieser Kasten war ein Albtraum mit Türmchen und verwitterten Grausteintreppen, die zur schweren doppelten Holztür hinaufführten. Diese öffnete sich nun mit schrecklichem Knarren.
Das Gruselschlossbesitzerehepaar Lossenbrink trat uns zur Begrüßung entgegen. Sie sah aus wie die Hexe aus Hänsel und Gretel. Er sah erstaunlich normal aus. Das Schloss muss also schon im Besitz ihrer Vorfahren gewesen sein und er war nur angeheiratet. Wie hatte sie ihn nur rumgekriegt? Oder war er blind? Nein, denn er fand unser Gepäck und half tragen.
Nun standen wir in der Halle an der Rezeption und hörten, wie Frau Lossenbrink uns erklärte, dass wir das Abendessen verpassen würden, wenn wir nicht gleich im Speisesaal auftauchen würden. Ihr Ton verbat jeden Widerspruch. Und so blieb mir im Halse stecken, was ich auf dem Herzen hatte. Ich hatte nämlich richtige Wut, wegen der lebensgefährlichen Überfahrt und wegen der Kofferschlepperei, ganz zu schweigen von dem blöden alten Tor.
„Ich bringe dann Ihr Gepäck aufs Zimmer“, sagte Herr Lossenbrink und seine liebe Frau hielt uns die Zimmerschlüssel mit spitzen Fingern hin und wies auf die Tür zum Speisesaal.
„Jetzt haben wir endlich mal Glück.“ Ich hielt Stefan den Zimmerschlüssel hin. Auf kleinen Messinganhänger waren die Nummern 13x und 13y eingraviert.
Der Speisesaal war sehr altmodisch gestaltet. Wir hatten nichts anderes erwartet. Stefan bestaunte die wunderschöne Holzvertäfelung der Wände. Etwas zu dunkel für meinen Geschmack. Eine kleine nette Gesellschaft hatte an den Tischen Platz genommen und aß bereits. Der Kellner, ein furchtbar dürrer junger Mann mit einer Adlernase, nickte uns im Vorbeilaufen kurz zu. Wir folgten ihm. Ich beugte mich zu Josefine hinunter, um an ihr Ohr zu kommen. „Pass mal auf, der spielt hier bestimmt das Knochengerippe“, flüsterte ich. Sie lächelte. Die Adlernase führte uns in die dunkelste Ecke hinten rechts und wir setzten uns. Da ich gerne Leute beobachte, setzte ich mich so, dass ich alles gut im Blick hatte. Der Kellner stand immer noch an unserem Tisch. Stefan verlangte die Karte, aber die Adlernase rührte sich nicht.
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