Wir zweifelten keinen Moment mehr an unserem Durchhaltevermögen.
Stefan kam aus der Garage herein. Annika lotste ihn gleich an den Computer. Er las und lachte und fuchtelte mit seinen ölverschmierten Händen vor unseren Gesichtern rum. „Huhu!!“, rief er. Er konnte sich nur schwer beruhigen.
„Fahren wir da jetzt hin oder nicht?“, fragte ich.
„Da fahr ich nicht hin.“ Papa winkte ab.
„Du könntest dein neues Auto ausprobieren“, sagte ich beiläufig.
Stefan stellte die Ohren auf. „Du hast noch Geld fürs Benzin?“
„Die Kinder haben doch Sparbüchsen!“
Sofort brach ein Tumult los. Die beiden sahen ihr hart erspartes Taschengeld in Gefahr und probten den Aufstand.
„Nein, lasst mal, ein paar Euro habe ich noch“, stellte ich klar. „Außerdem sparen wir ja für drei Wochen das Haushaltsgeld. Ist nämlich mit Vollpension. Da steht es.“ Ich zeigte mit dem Finger auf den entsprechenden Eintrag.
„Da machen wir ja ein Schnäppchen“, freute sich Annika.
Stefan hatte mittlerweile die ganze Seite durchgelesen. Er glaubte nicht so recht an ein Schnäppchen. Ihm war sofort klar gewesen, dass die Schlossgeister einiges tun würden, um an ihre zehntausend Euro zu kommen. Er warnte uns.
„Ach was“, widersprach ich. „Wenn die Geister aufzucken, gibt es was auf die Mütze.“ Ich imitierte einen berühmten Boxer und teilte ein paar kräftige Schläge aus.
„Das haut keine Mücke um“, grinste Stefan. Aber er wollte kein Spielverderber sein. Und das Auto musste wirklich eingehend getestet werden.
Also gab er seine Zustimmung und ich durfte buchen. Ich klickte auf den entsprechenden Link und bestellte zwei aneinander liegende Doppelzimmer auf Schloss Lossenbrink. Mit einem flauen Gefühl im Magen erklärte ich mich mit der Zahlung von zehntausend Euro bei vorzeitiger Abreise einverstanden.
*
Ein paar Tage für Reisevorbereitungen, das war nicht viel. Was braucht man eigentlich alles? Alles Mögliche und Unmögliche ging mir durch den Kopf. Taschenlampen und Batterien dazu. Müsliriegel und Isodrinks für die Kondition. Ein Lexikon zur Erklärung des Unerklärlichen. Kerzen? Streichhölzer? Kann man mit Bonbons Gespenster bestechen? Oder sollte man sie verjagen? Mit Mäusefallen, Elektroschockern oder Pfefferspray? Oder ist das übertrieben? Ob ich noch mal ins Fitnessstudio gehe? Ein Schnellkurs in Selbstverteidigung ist bestimmt zu teuer, aber vielleicht reicht etwas Krafttraining. Ob man mit Psychologie etwas gegen Spuk ausrichten kann? Ich nahm mir vor, noch ein Buch zu dem Thema besorgen. Nicht dass noch einer von uns vor lauter Angst Wahnvorstellungen bekommt oder Stimmen hört. Kann man vor Angst eigentlich einen Herzanfall kriegen? Das brachte mich drauf: Erste-Hilfe-Zeug musste mit und Beruhigungsmittel.
Bekommt man so eine Knarre mit Gummigeschossen auch ohne Waffenschein? Gibt es heute noch Riechsalz gegen Ohnmachtsanfälle? Soll ich eine Lebensversicherung abschließen? War es überzogen, ein Testament beim Notar zu hinterlassen? Fragen über Fragen.
Ich beschloss, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es braucht ja auch keiner wissen, was ich in meine Tasche packte. Außerdem wollten die unser Geld, nicht unser Leben!!
Endlich saßen wir im Auto. Die Spannung stieg. Stefan hatte gute Laune, seine Kutsche fuhr ohne Probleme in die große weite Welt hinaus, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Ich war in Gedanken versunken. Annika kämpfte gegen ihre Reisekrankheit. Josefine dagegen kämpfte mit ihrem Plüschpferd gegen unsichtbare Geister. Ich hatte ihr natürlich erzählt, dass es in Wirklichkeit keine Gespenster gibt und jeder Spuk erklärbar ist. Aber das wusste sie schon. Selbst der Weihnachtsmann ist in Wirklichkeit ein Mensch, hatte sie mir altklug erklärt. Und der Osterhase, der Yeti und das Ungeheuer von Loch Ness ... Nun, lassen wir das.
„Nimm dir doch mal die Landkarte“, bat mich Stefan nach einigen Stunden, als wir dem Ziel schon nah sein mussten.
„Was ist denn?“
„Seit Ewigkeiten habe ich kein Haus mehr gesehen. Wann kommt denn hier das nächste Nest?“
Im Kartenlesen war ich noch nie gut gewesen. Aber ich war doch in der Lage festzustellen, dass zwischen dem letzten Dorf und dem, das jetzt kommen sollte, etwa fünf Kilometer lagen.
„Ich fahre aber schon eine Stunde und nichts passiert.“
„Na, solange noch eine Straße da ist, kann es ja nicht ganz so falsch sein“, stöhnte Annika von den hinteren Plätzen und drückte dabei einen Brechreiz runter.
„Wann sind wir endlich da?“, quakte nun auch Josefine.
„Weit kann es nicht mehr sein.“ Ich schaute angestrengt in die Gegend, sah aber nur Bäume und fühlte irgendetwas, das mich beunruhigte.
„Fahr bloß langsam!“, warnte ich – da wurden wir auch schon in die Gurte gedrückt. Stefan war voll auf die Bremsen gestiegen. „Heiliger Bimbam!“, rief er. „Die Bremsen funktionieren jedenfalls.“
Vor uns, wie aus dem Nichts, war Wasser aufgetaucht. Richtiges echtes Wasser. Und kein Warnschild und kein winkender Polizist, nicht mal eine Schranke waren zu sehen. Die Vorderräder standen schon im Wasser und Stefan setzte eilig ein paar Meter zurück.
„Jetzt ist mir gar nicht mehr schlecht“, stellte Annika fest.
„Du stehst unter Schock, das wird schon wieder“, sagte Stefan.
„Ob das hier Hochwasser ist?“, fragte ich. „Das ist doch kein Fluss!“
Stefan verdrehte die Augen. „Dich kann man nicht die Landkarte lesen lassen. Du hast sie wieder verkehrt herum gehalten. Oder du bist in einem anderen Land oder was weiß ich!“ Er war aufgebracht.
„Schrei mich nicht an!“ Ich knallte ihm die Landkarte auf die Beine. Er schaute eine Minute ... zwei ... drei ...
„Nein, hier ist kein Fluss.“
„Kannst selber keine Karte lesen.“ Ich nickte zufrieden.
Wir stiegen aus, gingen ans Wasser und schüttelten die Köpfe.
„Ich geh erst mal in den Busch.“ Stefan verschwand und Annika holte ihr Fernglas aus dem Auto.
Ich glotzte auf das Wasser und verfluchte die Landkartenmacher. Die müsste man verklagen.
Stefan kam hinter den Büschen hervor, wedelte eine Zigarettenrauchwolke weg und winkte. Ich lief mit Josefine hin, um nachzusehen, was es da gibt.
„Hier stehen Autos“, erklärte Stefan.
„Pilzsucher“, vermutete ich und betrachtete die drei Autos. „Oder die Überbleibsel von abgesoffenen Schlossbesuchern.“
„Klar“, meinte Stefan. „Die haben ihr Auto hier abgestellt und sind dann ins Wasser gesprungen.“
Josefine schaute ungläubig. „Ist unser Geisterschloss da im Wasser?“
Ich stand da und wusste nicht weiter. Von Hochwasser hätten wir doch in den Nachrichten gehört. Wo kam das Wasser bloß her?
„Mama komm schnell!“, rief Annika. Wir rannten zurück zur Straße. Annika stand da mit dem Fernglas und zeigte aufs Wasser. „Ein Boot, da kommt ein Boot!“
Stefan riss ihr das Fernglas aus der Hand. „Tatsächlich. Das kommt sogar auf uns zu.“
„Das gehört zum Programm, das Wasser ist eine optische Täuschung“, rätselte ich und tauchte einen Finger hinein. „Nein, doch nicht. Das ist Wasser.“
Josefine beugte sich vor, um ebenfalls das Wasser zu prüfen.
„Josefine, fass bloß nicht rein, am Ende gibt es da Piranhas!“, ermahnte ich sie.
„Was sind Piranhas?“, fragte sie interessiert.
„Nun, das sind so kleine Fische, die fressen alles, was sie erwischen können. Besonders gern fressen sie die Finger kleiner Kinder.“
„Echt?“
„Ja, die lassen nur die Knochen übrig.“
„Echt??“
Annika konnte nicht mehr mit ansehen, wie ihre Schwester litt. „Sie erzählt wieder Schauergeschichten!“, flüsterte sie und zwinkerte der Kleinen zu.
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