»Ich zeig dir noch den ersten Stock«, sagte Charlotte. Sie ging voran die Treppe hinauf. Im oberen Stockwerk deutete sie auf die Tür geradeaus. »Das ist das Bad, das kennst du ja schon.« Charlotte drehte sich um. »Das hier ist mein kleines Wohnzimmer. Das ist viel gemütlicher und netter als unten der große Raum. Hinter dieser Tür ist mein Schlafzimmer, und der nächste Raum wird für heute Nacht dein Zimmer sein.« Sie öffnete die Tür, zog sie einladend weit auf und knipste das Licht an. »Das war das Zimmer meiner Tochter Elisabeth.« Ella sah sich neugierig um. Es sah so gar nicht nach dem Zimmer eines kleinen Mädchens aus.
Charlotte bemerkte ihren Blick. »Ich habe damals alle Sachen von Elisabeth in den Keller geräumt. Es tat mir einfach zu weh, jeden Tag ihre Spielsachen und ihre Kleider zu sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, nickte Ella mitfühlend.
Charlotte sah sich traurig um, dann richtete sie sich energisch auf. »Ich habe dir das Bett frisch bezogen und ein Nachthemd herausgelegt. Jetzt schlaf gut und denk dran: Was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, geht in Erfüllung.« Langsam ging sie hinüber zu ihrem kleinen Wohnzimmer.
»Gute Nacht, Charlotte, und vielen Dank!«, rief Ella ihr hinterher.
Ella hielt das Nachthemd hoch, das ihr Charlotte auf das frisch bezogene Bett gelegt hatte. Es war bodenlang, roch frisch und sauber, war aber für die warme Jahreszeit eigentlich viel zu dick. Ella zuckte mit den Schultern und tauschte ihre Kleidung mit dem altmodischen Nachthemd. Sie war hundemüde und konnte kaum mehr die Augen offen halten. Eigentlich würde sie sich im Bad gerne noch frisch machen – Zähneputzen und die Toilette benutzen, bevor sie sich schlafen legte, aber der Schreck von vorhin saß ihr immer noch in den Knochen.
Sie strich die Gardine zur Seite und sah aus dem Fenster. Eine dichte, dunkle Masse schien mit aller Kraft gegen die Scheibe zu drücken. Ella schauderte und ließ den Vorhang schnell wieder zufallen.
Sie setzte sich aufs Bett, barg das Gesicht in den Händen und ließ den Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Wie hatte es nur passieren können, dass sie gezwungen war, heute Nacht in diesem alten Haus zu übernachten. Erst der Überfall und jetzt noch dieser schreckliche Nebel – heute war definitiv kein guter Tag gewesen. Morgen konnte es eigentlich nur besser werden. Sie musste unbedingt ihrer Mutter Bescheid geben, dass alles in Ordnung war. Und sie wollte ihren Chef fragen, ob sie kurz von der Arbeit weg konnte; sie musste unbedingt vormittags noch zur Polizei gehen und Anzeige erstatten. Ella seufzte. So gerne läge sie jetzt zu Hause in ihrem eigenen Bett. Sie könnte noch ein bisschen Musik hören oder sich einfach vom Fernseher berieseln lassen. Naja, es nutzte ja nichts, zumindest hätte sie dann morgen den kürzesten Arbeitsweg aller Zeiten. Sie stemmte sich hoch und machte sich auf den Weg ins Bad.
Lisa winkte in der großen Pause ihre engsten Freundinnen zusammen: Karo, Micha und Sarah. »Ich muss euch was mega-geheimes erzählen«, flüsterte sie geheimnisvoll.
Erwartungsvoll zog Sarah, Lisas beste Freundin, die Augenbrauen hoch. Sarah und Lisa kannten sich seit ihrer Kindheit. Ihre Eltern hatten im gleichen Wohnblock gewohnt und die Töchter hatten im Sandkasten zusammen gespielt. Sarah, klein, schlank, zierlich, mit langen dunkelblonden Locken und großen blauen Augen, war schon immer die hübscheste der Clique gewesen, wie Lisa neidlos feststellte – oder fast neidlos. Karo, eigentlich Karoline, war ebenfalls ein Hingucker: lange blonde Haare, die Haut immer sonnengebräunt, fast 1,80 m groß mit breiten Schultern, war sie der sportliche Typ. Leider war sie größer als die meisten Jungs und hatte deshalb Hemmungen. Das würde sie sich aber niemals anmerken lassen. Micha, eigentlich Michaela, war die unscheinbarste von ihnen: mit kurzen dunkelbraunen Haaren, braunen Augen, etwas mollig, wurde sie oft einfach übersehen, aber sie hatte einen herrlichen Humor und war immer hilfsbereit, was Karo und Sarah gerne ausnutzten.
Sarah sah Lisa erstaunt an, das hörte sich aber spannend an. Auch Karo und Micha schauten neugierig und beugten sich näher zu Lisa. Die vier waren ein eingeschworenes Team und verbrachten viel Zeit, auch außerhalb der Schule, miteinander. Lisa, Sarah und Karo gingen in die gleiche Klasse, Micha besuchte die Parallelklasse, aber in den Pausen hingen sie immer zusammen herum und auch am Nachmittag trafen sie sich oft, um ins Kino zu gehen oder Eis zu essen. Wenn am Ende des Monats kein Taschengeld mehr übrig war, hingen sie bei einer von ihnen in deren Zimmer ab, hörten Musik oder sahen DVDs, gerne mal ein Kettensägenmassaker oder ähnliche Schocker.
Lisa erzählte mit leiser Stimme, was gestern Abend bei ihr zu Hause passiert war: Zuerst der große, dicke Blutfleck vor der Eingangstür, in dem eine junge Frau stand, die völlig aufgelöst schien, die Lisa aber nur leicht verschwommen erkennen konnte. Später dann, im Badezimmerspiegel, das Gesicht derselben jungen Frau, schwer verletzt, mit Blut im Gesicht und schrecklich grauer Gesichtsfarbe, mit wirrem schwarzem Haar und aufgerissenen Augen.
Lisa wurde beim Erzählen schon wieder ganz schlecht und sie wurde blass. Die anderen drei unterbrachen ihren Bericht nicht, sondern sahen sie nur ungläubig an.
»Ihr dürft keiner Menschenseele etwas davon erzählen«, zischte Lisa, »das ist super geheim und niemand darf davon erfahren. Sonst hält mich doch jeder für durchgedreht. Ich hab mich eh schon bei Peter und meiner Mutter blamiert. Peter hält mich für hysterisch und meine Mutter denkt, ich fange wieder mit dem Schlafwandeln an. Aber das war sooo gruselig und ich hatte schreckliche Angst.« Lisa stiegen die Tränen in die Augen. »Schwört, dass ihr es niemanden erzählt!«
Sarah, Karo und Micha sahen sich fragend an und wussten nicht so recht, wie sie reagieren sollten.
Micha machte große Augen und murmelte: »Das ist ja echt cool, versprochen, wir erzählens nicht weiter.« Karo war etwas blass geworden war, nickte aber zustimmend.
Sarah beugte sich zu Lisa. »Und das hast du alles gesehen? Das ganze Blut und so? Hast du die junge Frau erkannt?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Nein, die Frau hab ich vorher noch nie gesehen und sie war auch irgendwie unscharf. Genauer hab ich sie nur oben im Spiegel gesehen und sie hat genauso entsetzt ausgesehen wie ich mich gefühlt habe. Mensch Leute, ich hab echt das Gefühl, ich dreh durch. Was soll ich denn jetzt machen?« Lisas Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Ich hab Angst, ins Bad zu gehen, und heute morgen musste ich mich zwingen, durch die Haustür zu gehen. Ich hab einfach immer an den großen Blutfleck denken müssen.«
Karo zog ihre Stirn in Falten. »Wir haben doch gestern den Horrorfilm geschaut, vielleicht war der doch zu hart?«
Lisa nickte. »Peter meint das auch. Er denkt, ich bin ein Weichei und meine zarte Psyche verträgt solche Filme nicht. Meine Mutter hats rausgekriegt und mir wieder eine Predigt gehalten. Aber es liegt nicht an dem Horrorschocker. Sowas haben wir doch schon öfter angeschaut, und es hat mir noch nie was ausgemacht. Nicht mal Alpträume hatte ich danach. Außerdem war das alles so echt! Ich glaub, ich dreh durch«, sagte sie kläglich.
Bevor ihre Freundinnen etwas erwidern konnten, klingelte es über den Pausenhof. Die Pause war zu Ende und langsam zogen alle Schüler Richtung Schuleingang. Micha legte Lisa den Arm um die Schultern. »Lass uns das heute Nachmittag nochmal alles bereden. Können wir uns bei dir treffen, Lisa? Bei mir gehts nicht, meine Mutter hat wieder ihre Freundinnen zum Kaffeeklatsch eingeladen.« Sie verdrehte genervt die Augen.
»Ja, klar«, sagte Lisa, »kommt heute Nachmittag zu mir, ich zeig euch dann, wo ich den ›Geist‹ gesehen habe. Aber sagt bloß nichts vor Peter oder meiner Mutter.« Beschwörend sah sie das Trio an.
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