Lisa war hundemüde und zugleich völlig aufgedreht. Ich geh duschen, dachte sie und schnappte sich ihr teures Duschgel aus dem Regal. Die Flasche versteckte sie vor Peter in ihrem Zimmer, denn der würde ihr exklusives Duschgel einfach verbrauchen, ohne zu merken, wie gut man danach duftete und wie geschmeidig es die Haut machte. Mit der Flasche unterm Arm wanderte sie zum Badezimmer und stand vor der abgesperrten Tür. Sie zog die Augenbrauen hoch und klopfte energisch an die Tür. »Peter? Ich muss ins Bad!« Nochmals klopfte sie nachdrücklich.
»Ja, ja«, kam es undeutlich aus dem Badezimmer, »ich bin gleich fertig, muss zum Handballtraining!«
Lisa ließ sich im Flur auf den Boden sinken, zog die Beine an und umarmte die Flasche. Na hoffentlich war das ›gleich fertig‹ auch ernst gemeint.
Die Badtür öffnete sich und mit einem Schwall feuchter Luft kam Peter heraus, mit noch nassem, dunklem Haar, frisch geduscht und gut riechend. Ihr großer Bruder sah wirklich gut aus. »Na, kleine Nervensäge, alles klar?« Peter tätschelte ihr liebevoll den Kopf und ging mit langen Schritten zur Treppe.
»Du hast dich aber schick gemacht. Viel Spaß beim Training!«, rief Lisa ihm hinterher. Sie hörte Peter noch fröhlich lachen. Sie hasste es, wenn er ihr den Kopf tätschelte.
Vielleicht nehme ich lieber ein Bad, überlegte Lisa. Dann ins Bett kuscheln und noch ein bisschen entspannende Musik hören. Sie schloss die Tür ab, ließ schon mal das Wasser in die Wanne laufen und fing an, sich auszuziehen. Sie trat zum Waschbecken, um ihr blondes, halblanges Haar hochzustecken. Sie warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die Haare so zu tragen würde ihr auch gut stehen, vielleicht sollte sie das einfach mal ausprobieren. Sie betrachtete ihr schmales, etwas blasses Gesicht mit den großen blauen Augen. Auf der kleinen Nase tummelten sich einige Sommersprossen. Lisa verzog das Gesicht. Sie hasste diese Sommersprossen, obwohl sie auch ein bisschen frech wirkten. Langsam beschlug der Spiegel. Sie nahm ein kleines Gästehandtuch, um die Scheibe wieder sauber zu wischen. Da sah ihr ein fremdes Gesicht entgegen. Sie stolperte einen Schritt zurück und hielt das Handtuch schützend vor sich. Es war das Gesicht der jungen Frau, die sie vorhin unten im Flur gesehen hatte, sie war sich ganz sicher. Lisa bekam Gänsehaut und starrte gebannt in den Spiegel. Die dunkelhaarige Frau war ganz grau im Gesicht und hatte eine schlimme Wunde über der Augenbraue. Blut lief über ihre Wange und sammelte sich im Mundwinkel, die Lippen waren blass, fast weiß. Ihr Haar wirr und voller Blut, das ihr langsam auf die Schulter tropfte. Mit angstvollen Augen blickte sie aus dem Spiegel. Lisa ging rückwärts, bis sie an die Tür stieß, ließ das Handtuch fallen und presste fest die Hände vor den Mund, um nicht wie am Spieß zu schreien.
»So, mein Kind, setz dich zu mir. Leider habe ich keine Milch im Haus.« Entschuldigend blickte die alte Dame Ella an.
Ella zuckte mit den Schultern. »Das macht doch nichts.« Sie setzte sich auf einen der altmodischen Küchenstühle.
»Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?«
Ella nickte. »Ja, gerne.«
»Du kannst mich Charlotte nennen. Weißt du, ich wohne bereits seit einigen Jahrzehnten in diesem Haus.« Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und drehte sich zu Ella um. »Mein Mann hat sich damals förmlich in das Gebäude verliebt und es für uns gekauft. Elisabeth, unsere Tochter, war gerade sechs Jahre alt und es war herrlich, dass sie die Möglichkeit bekam, in einem großen Haus mit Garten aufzuwachsen. Vorher haben wir in Heimlingen gewohnt, direkt in der Innenstadt.«
Charlotte füllte das Glas mit Wasser aus dem Hahn und stellte es vor Ella hin.
»Wilhelm, mein Mann, konnte bequem zu Fuß ins Institut gehen. Er war Doktor der Biologie und hatte ein eigenes Labor am Institut für Tropenforschung in der Theatergasse. Als wir hierherzogen, hatte er natürlich einen weiteren Weg in die Arbeit, aber für Elisabeth hat er das gerne auf sich genommen.« Charlotte setzte sich ächzend Ella gegenüber. »Das Kind war sehr glücklich hier im Haus, sie hatte oben ein großes Zimmer und spielte dort so gerne. Dann der herrliche Garten, er war ihr ein und alles. Leider ist mein Wilhelm drei Jahre später bei einem Unfall ums Leben gekommen. In seinem Labor gab es einen Vorfall mit einer giftigen Substanz – mehr habe ich vom Institut leider nie erfahren. Und dann waren Elisabeth und ich ganz alleine. Wir blieben trotzdem weiter hier wohnen. Weißt du, das Institut hat uns eine großzügige Rente bezahlt. Bestimmt wollten sie nicht, dass ich weiter Fragen über den Unfall stelle. Ich habe das Geld gerne genommen.« Charlotte sah sie traurig an. »Wilhelm war doch tot und nichts hätte ihn wieder lebendig gemacht. Dann passierte das nächste schreckliche Unglück: Elisabeth wurde schwer krank. Sie lag ein halbes Jahr im Bett und wurde immer schwächer. Kein Arzt konnte helfen. Nach jedem Strohhalm griff ich, sogar einen Spezialisten in Stockholm kontaktierte ich, aber es gab keine Hilfe. Niemand wusste, an welcher Krankheit Elisabeth litt. Ich musste dem armen Kind beim Sterben zusehen.« Charlotte schluchzte. »Ja, und seitdem lebe ich hier ganz alleine.«
Charlotte fuhr sich über die Augen. »Ach, was plappere ich da alles! Tut mir leid«, sie schlug die Hände zusammen, »ich habe so selten Gelegenheit, mich mit jemandem zu unterhalten. Aber jetzt erzähl, was dir vorhin passiert ist, Kind.«
Ella nahm einen Schluck Wasser. Das schmeckt ja furchtbar, dachte sie. Abgestanden und etwas bitter. Jetzt sah sie, dass das Wasser leicht trüb war. Auch hier in der Küche roch es modrig. Sie stellte das Glas wieder auf den Tisch zurück.
»Mein Name ist Ella. Vielen Dank, dass Sie mich so freundlich aufgenommen haben. Und das mit ihrem Mann und ihrer Tochter tut mir wirklich schrecklich leid.« Sie spielte nervös mit ihrem Handy, das sie in die Bademanteltasche gesteckt hatte.
Charlotte nickte. »Warum bist du denn hier hereingerannt?«
Ella schluckte, erzählte, wie sie das Büro verließ, um sich wie jeden Tag auf den Heimweg zu machen. Als sie sich erinnerte, wie aus der Seitenstraße die drei Jugendlichen stürmten, bekam sie Gänsehaut und Magendrücken. Die drei hatten aber auch angsterregend ausgesehen: Springerstiefel, kurzgeschorene Haare, die offene Bierflasche und die großen Tattoos auf den Unterarmen. Das ›Hey Alte gib die Tasche‹ hallte ihr noch in den Ohren.
Charlotte tätschelte sanft ihre Hand. »Du armes Ding. Heutzutage ist man wirklich nirgends mehr sicher. Ich verlasse das Haus nur, wenn es gar nicht anders geht«, seufzte sie.
»Wenn es ihnen recht ist, würde ich gerne kurz telefonieren. Ich möchte meiner Mutter Bescheid sagen, dass ich etwas später komme. Wir hatten uns zum Abendessen verabredet und sie fragt sich bestimmt, wo ich bleibe. Und dann würde ich auch gerne nach Hause fahren. Meine Sachen sind inzwischen bestimmt wieder einigermaßen trocken.«
Charlotte nickte und deutete in den Flur. »Das Telefon steht auf der Anrichte. Du kannst es gerne benutzen.«
Ella ging in die Diele und besah sich das alte Telefon: schwarz und mit Wählscheibe. Sie erinnerte sich, dass ihre Großmutter so einen Apparat besessen hatte. Sie nahm den klobigen Hörer ab und begann langsam zu wählen. Ella wartete. Ist meine Mutter etwa schon unterwegs ins Restaurant?, überlegte sie, denn niemand hob ab. Sie sah auf ihre Armbanduhr und stellte fest, dass sie um 16.12 Uhr stehengeblieben war. Ein dicker Sprung zog sich über das Uhrglas. Das muss die Zeit gewesen sein, als die Kerle mir nachgerannt sind, seufzte sie. Sie drückte auf die Gabel und hörte das Freizeichen. Plötzlich klickte es, dann ein lautes Rauschen, ganz weit weg war leise eine Stimme zu hören. »Hallo!«, rief sie, »hallo?«, aber auf einmal war alles vollkommen still. Was war das denn? Sie hatte doch gar keine Nummer gewählt! Erstaunt sah sie den Hörer an, hielt ihn sich dann nochmals ans Ohr … die Leitung war tot.
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