Enttäuscht drehte sich Ella zu Charlotte um. »Meine Mutter ist anscheinend schon unterwegs. Es gab ein lautes Rauschen und jetzt kommt nicht mal mehr ein Freizeichen.«
Charlotte nickte bedächtig. »Seit gestern gibt es immer wieder Störungen in der Leitung, probier es einfach nachher noch einmal. Komm, setz dich solange zu mir in die Küche.«
»Ich muss jetzt wirklich los, Charlotte. Es wird sonst zu spät«, sagte Ella bedauernd. »Außerdem habe ich mir überlegt, dass ich noch zur Polizei fahre und Anzeige erstatte. Ich probiers dann draußen nochmal mit dem Handy.«
»Aber Kind, es ist doch schon halb zwölf.« Charlotte deutete auf die Wanduhr in der Küche. Ella fuhr erschrocken herum. Tatsächlich: die Uhr zeigte halb zwölf. »Das gibts doch gar nicht«, entfuhr es ihr. »Ich bin doch gerade erst von der Arbeit weg, es kann doch nicht schon so spät sein?« Verwirrt wandte sich Ella an Charlotte. »Geht die Uhr denn wirklich richtig? Meine Armbanduhr ist leider stehen geblieben.« Sie schüttelte das Handgelenk mit der nutzlosen Uhr.
»Natürlich geht die Uhr richtig, sogar auf die Minute genau. Ich achte stets darauf, dass die Küchenuhr immer aufgezogen ist und stelle sie regelmäßig.« Stolz blickte Charlotte zur Wand.
Charlotte tätschelte beruhigend Ellas Hand. »Um diese Uhrzeit fährt kein Bus mehr. Am besten, du übernachtest heute hier. Ich habe oben ein Gästezimmer und kann dir das Bett schnell frisch überziehen.«
»Das ist furchtbar nett von Ihnen, aber ich muss wirklich nach Hause. Meine Mutter wird sich schon schreckliche Sorgen machen. Ich probier, ob ich vorm Haus Handyempfang bekomme, dann kann ich meine Mutter beruhigen und mir ein Taxi rufen.«
Ella zog ihr Handy aus der Tasche des Bademantels und war schon halb auf dem Weg zur Haustür, als sie merkte, dass das Gerät leer war. Das Display blieb dunkel. Ella stiegen Tränen in die Augen, das durfte doch nicht wahr sein! Und sie hatte kein Ladegerät dabei – das lag noch im Büro. Beinahe hätte sie aufgeschluchzt. Was mache ich denn jetzt, dachte sie. Zu den Nachbarn gehen und fragen, ob ich mal telefonieren darf? Ella drehte sich zu Charlotte um und wollte gerade danach fragen, als ihr die alte Frau ins Wort fiel.
»Schau mal zum Fenster raus! Der Nebel ist noch viel schlimmer geworden. Das sieht aus wie in einer Waschküche.« Charlotte zog die Gardinen des Küchenfensters zur Seite.
Ella spähte nach draußen, sah aber nur ihr eigenes Gesicht im Fenster spiegeln. Dahinter türmte sich eine dicke, graue Front. »Du liebe Zeit, das sieht wirklich schlimm aus. Ich dachte, ich gehe schnell zu den Nachbarn und frage, ob ich telefonieren darf.«
Charlotte schüttelte bedächtig den Kopf. »Die Familie Müller rechts ist im Urlaub, genauso die Föttingers auf der anderen Seite.«
»Ich probiers trotzdem«, sagte Ella, »irgendjemand wird doch zu Hause sein und ein funktionierendes Telefon besitzen.« Sie lief die Stufen nach oben zum Badezimmer. Vorsichtig öffnete sie die Tür und besah sich ihre Bluse und die Hose auf der Wäscheleine. Alles sah normal aus, kein Blut war zu sehen. Erleichtert nahm Ella die Sachen von der Leine und zog sich an. Die Bluse war noch ziemlich feucht und die Hose klebte ihr unangenehm an der Haut, aber das war ihr egal. Wirklich komisch, dass ihre Mutter so spät noch nicht zu Hause war. Sie musste sich doch Sorgen machen und auf ihren Anruf warten. War sie womöglich losgefahren, um ihre Tochter zu suchen? Ella spürte ein nervöses Kribbeln im Bauch. Es wurde allerhöchste Zeit, dass sie hier weg kam. Und dann dieser Geruch hier im Haus! Ella fand ihn ekelhaft. Hier im Bad war er besonders schlimm.
Ella sprang die Stufen hinab und ging zu Charlotte in die Küche. Sie streckte ihr die Hand hin. »Vielen Dank, dass sie mir geholfen haben! Ich muss jetzt wirklich gehen.«
Charlotte schüttelte langsam Ellas Hand. »Besuch mich doch einfach mal«, sagte sie, »es macht mir wirklich große Freude, wenn ich mich mit jemandem unterhalten kann. Und wenn du kein Telefon findest, dann komm ruhig wieder her. Du kannst jederzeit im Gästezimmer übernachten.«
Ella nickte. »Gerne, und vielen Dank!« Sie schnappte sich ihre Tasche und lief mit energischen Schritten zur Haustür. Nichts wie raus hier, dachte sie, öffnete schwungvoll die Tür – und stand vor einer grauen Mauer. Der Nebel war so dicht, dass sie nicht einmal die wenigen Stufen, die in den Vorgarten führten, unter sich erkennen konnte. Hinter ihr beleuchtete das Licht aus der Diele das Grau, konnte aber nicht weiter als bis zur Türschwelle vordringen. Ella tastete vorsichtig mit dem Fuß nach der ersten Stufe, aber schon nach dem kleinen Vorwärtsschritt umschloss sie der Nebel unglaublich feucht und kalt. Schon wieder klebten Bluse und Hose an ihr. Sie zitterte vor Kälte. Es war so feucht, dass sie kaum Luft holen konnte. Hinter ihr erschien ein Schatten. Erschrocken fuhr sie herum. Charlotte stand in der Tür und spähte hinaus. »Das ist zu gefährlich, Kind. Da kannst du nicht hinaus. Du würdest dich ja schon im Vorgarten verirren.«
Ella biss die Zähne zusammen. Warum nennt sie mich dauernd Kind? Ella! Ich heiße Ella!, dachte sie. Aber sie musste Charlotte recht geben. Es war unmöglich, hinauszugehen. So einen dichten und feuchten Nebel hatte sie noch nie erlebt. Sie hatte das Gefühl, Wasser einzuatmen. Was mach ich denn jetzt nur, überlegte Ella verzweifelt, eigentlich will ich einfach nur nach Hause. Aber dieser Nebel war geradezu unheimlich. Sie fröstelte. Sollte sie wirklich hier übernachten? Entschlossen drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. »Ich würde Ihr Angebot doch gerne annehmen«, sagte Ella niedergeschlagen.
»Natürlich, Kind, eine gute Entscheidung.« Charlotte schloss energisch die Haustür.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viele Umstände mache.« Ella blickte die alte Frau entschuldigend an.
Charlotte lächelte. »Mach dir keine Sorgen, Kind. Ich bin froh, so nette Unterhaltung zu haben. Hier im Haus ist es viel zu ruhig. Komm! Wenn du magst, zeige ihr dir das Haus und richte dir dann das Gästezimmer.«
Ella nickte neugierig. Das Haus würde sie sich gerne anschauen.
Charlotte führte sie den Flur entlang und öffnete die Tür neben der Küche. »Hier, das ist das Esszimmer. Ich benutze es schon sehr lange nicht mehr. Es ist viel zu groß für eine Person und in der Küche isst es sich wesentlich gemütlicher, vor allem wenn man alleine ist.« In dem Raum stand ein großer, polierter, dunkler Holztisch mit gedrechselten Beinen, darunter waren vornehme Stühle mit hoher Lehne geschoben. Eine riesige Pendelleuchte spendete helles Licht und an einer Wand gab es eine Anrichte, auf der zwei große silberne Kerzenleuchter standen. Die dicken Übervorhänge waren fest zugezogen und alles roch muffig und feucht. Charlotte ging weiter und öffnete die nächste Tür. »Das hier ist das Wohnzimmer.« Sie drückte den Lichtschalter und der Raum wurde in helles Licht getaucht. Hier nahm ein riesiges, altes Sofa, das aussah, als würde man darin versinken, die gesamte Wand ein. Davor stand ein langer, niedriger Couchtisch, auf dem ein bestickter, verblichener Tischläufer lag. In einer Ecke stand ein großer, bequem aussehender Sessel und an der hinteren Wand gab es einen wuchtigen Wohnzimmerschrank mit vielen Schnitzereien aus fast schwarzem Holz. Von den Fenstern war nichts zu erkennen. Dicke Vorhänge im Blümchenmuster verhüllten fast die komplette Wand. Der Raum machte auf Ella einen völlig überladenen Eindruck.
»Das war das Erdgeschoss, hier gehts noch in den Keller.« Charlotte deutete auf eine Treppe, die nach unten führte. »Dort unten sind nur die Waschküche und der Heizraum.« Ein erstickend bitterer Geruch stieg Ella in die Nase. Da unten stinkts ja entsetzlich, dachte sie und hätte sich am liebsten die Nase zugehalten.
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