Das Eigenheim entstand mit günstigen Krediten des Arbeitgebers sowie der dahinterstehenden Wohlfahrtsmaschinerie, aber man gewöhnte sich nie wirklich an das nur scheinbar Neue - die zweite große Lebenslüge. In Wahrheit war man einem damals schon rezessiven Industriezweig ausgeliefert, inklusive der diesem innewohnenden Stagnation, mitsamt seinem veralteten Gesellschaftsbild. Die Kohle, einst der Rohstoff zur Anfachung sowie Befeuerung wirtschaftlicher Dynamik, gereichte im Privaten wohl eher zum Gegenteil, dem Inbegriff anheimelnder Immobilität. Es gab wohl vor in harten Wintern kein besseres Heizmittel, aber wenn man sich länger als einen halben Tag von zu Hause entfernt hatte, war der Ofen aus. Eine heile Siedlungswelt, wo in der großen Mehrzahl der Familien die Frauen nicht berufstätig waren, die meisten auch ein gutes Stück älter als seine Eltern. Diese hatten zwar in den fünfziger Jahren noch ihre Berufsausbildungen absolviert, wirkten aber zumindest in ihrem Habitus nicht mehr so gestrig, nicht mehr so eingebunden in die Verheißungen der inneren Bescheidenheit. Sie waren doch schon eine Generation weiter. Es hätte eine Chance sein können,
Die Mutter sieht oder erahnt diese zumindest, glaubt, illuminiert durch den Kontakt mit Menschen aus vermeintlich perfekten gesellschaftlichen Sphären an andere Möglichkeiten. Sie arbeitet als Kinderkrankenschwester im städtischen Krankenhaus, eine Tätigkeit, der mehrere Mitglieder innerhalb des erweiterten Verwandtschaftskreises von ihrer Seite aus nachgehen, gibt es doch dort eine Person, die aufgrund einer beeindruckenden beruflichen Karriere einer bedeutenden Institution im Lande vorsitzt, mit den entsprechenden Möglichkeiten versehen, die eigenen Leute an passender - oder auch weniger passender Stelle mit Nachdruck anzuempfehlen. Neben den ein scheinbar ideales Leben vorexerzierenden Ärzten gibt es da Kolleginnen, die ihr klarzumachen versuchen, dass auch im nichtakademischen Umfeld ein gewisser Anspruch vorhanden und auch erfüllbar sein sollte. Man ist schließlich berufstätig an exponierter Stelle - da wird man doch wohl noch ein Theaterabonnement im Verwandtschaftskreis vorzeigen dürfen, ohne gleich der Hochnäsigkeit geziehen zu werden. Auch ihrer jüngeren Schwester beispielsweise, der Unverheirateten, beruflich an selber Stelle tätig, die später als Liebhaberin klassischer Musik halb Europa bereisen wird, um ihren Lieblingstenor zu besichtigen, begegnet man von Seiten der älteren Geschwister mit einer nur schwer zu ertragenden, respekteinflößenden Häme. Und diese verfehlt auch dort ihre Wirkung nicht, obwohl die Schwester etwas härter im Nehmen ist als seine Mutter. Geradezu so, als ob man selbst schon einmal etwas wirklich Erhebendes gesehen oder gehört hätte. Wenn man in Seilschaften lebt, wirft man doch keinem Sangesbruder Geld hinterher - am Ende fehlt es dann womöglich noch, um ein neues Seil anzuschaffen: Das Leben als Bubenstück.
Doch dieses ständige »gegen Windmühlen anrennen« durch einen klaren Schnitt, einen Tabubruch innerhalb der eigenen Reihen zu ersetzen, würde viel Kraft und Selbstvertrauen erfordern. Natürlich, der gesellschaftliche Wandel zu Beginn der Siebziger hätte zu Einigem ermutigen können. Aber dieser stand in ihren Kreisen, falls er dort über das Materielle hinaus überhaupt wahrgenommen wurde, von Anfang an auf tönernen Füßen. Man hat zwar gerade auf finanzieller Seite Einiges erkämpft, doch Manches führte dann auch zu illusionären Fehldeutungen: Bei seinen Eltern beispielsweise glaubte er, eine unterschwellige Koketterie für diese tolle Sportnation, dieses Arbeiterparadies auf der anderen Seite des Horizontes ausfindig gemacht zu haben, wo der kulturelle Anschluss für Leute ihres Schlages scheinbar von Staats wegen angestrebt werden sollte. Sie denken überdies - und das wird sich als wirklich fataler Irrtum herausstellen - man könne durch einen gewissen Aktionismus, der sich fast ausschließlich in falscher Zuvorkommenheit ergeht, bei Leuten, die man für wichtig hält, Augenhöhe erzwingen. Doch das Rüstzeug fehlt, und so sucht und versucht man sich stets an den falschen Stellen, ein Wesenszug, den Daniel erben wird, und der ihn im Grunde genommen bis heute beeinträchtigt. So hat man sich beispielsweise einen Partykeller im neuen Haus eingerichtet, argwöhnisch betrachtet von den Nachbarn, und feiert einem vermeintlich modernen Zeitgeist entgegen, zumeist mit Leuten aus dem Sportverein, die scheinbar furchtbar lustig sind - solange sie nicht bei sich selbst zu Hause feiern müssen. Seine Eltern glauben irgendwann, wobei sich sein Vater allzu leicht von seiner Frau mitreißen lässt, »Klimbim« in Echtzeit leben zu können - ohne Netz und doppelten Boden. Man lässt einen Studenten aus vorgeblich besserem Hause, ebenfalls aus dem besagten Verein, umsonst in einem noch leeren Zimmer wohnen - sich andienen, um vielleicht irgendwann nicht mehr dienen zu müssen. Dass es sich bei diesen Leuten überwiegend um die hinlänglich bekannten Djangos handelt, die man gewöhnlich in Linienbussen antrifft - um das zu erkennen, ist man zu naiv und gerät so in eine Art von Zugzwang, der man mit zunehmender Zeit immer weniger gewachsen ist. Im Grunde genommen wurden damals schon die ohnehin von Beginn an labilen Fundamente ihres fragilen gemeinsamen Lebensentwurfes komplett unterspült. Darüber hinaus versetzt man in dieser Lebensphase auch schon zu viel Tafelsilber, zu viel materielle und pekuniäre Substanz auf ein vages Lebensgefühl vertrauend hin, anstatt sich selbst einmal zu hinterfragen.
Aber als ultimativen Türöffner hin zu neuen Ufern hat sich die Mutter Daniel auserkoren, was zunächst auch relativ mühelos erscheint. Sie gibt dafür irrwitzigerweise sogar ihre Stelle in der Kinderklinik auf - und merkt noch nicht, dass sie damit sich selbst aufgibt. So tauscht sie den unsäglichen Vorzug, einen professionellen Umgang mit Leben und Tod pflegen zu dürfen gegen die vermeintlichen Verheißungen des trauten Heimes ein, wofür sie aber nicht geschaffen scheint. Da sich noch ein Kind ankündigt, wird der vorprogrammierte Leerlauf, der argwöhnisch interfamiliär begutachtet wird, noch ein paar Jahre überdeckt; die Einzige, die hier einen klaren Blick behält, ist ihre ledige jüngere Schwester, deren Meinung von ihrer ebenso erbarmungs - wie berufslosen Mutter, die in diesem Familienkreis immer noch die Marschrichtung vorgibt, selbstverständlich ignoriert wird. Was sollte eine Frau, die selbst keine Kinder hat, auch schon über dieses Thema zu sagen haben. Wie sollte man erlernte Kompetenz gegen dumpfen Naturalismus in Stellung bringen. Nichtsdestotrotz wird sie ihre Mutter bis zu ihrem eigenen allzu frühen Ableben pflegen dürfen - man sollte dankbar sein.
In Bezug auf den eigenen gehegten gesellschaftlichen Anspruch hat man sich nun selbst überlistet. Im Grunde genommen hörte seine Mutter damals schon auf, zu leben. Freunde hat man nun keine mehr, jedenfalls nicht die, die man zu brauchen glaubte. Das mag undramatisch und in gewisser Weise auch selbstverständlich klingen für viele, die mit den Erfordernissen des Kinderglücks konfrontiert sind, doch ist es unerträglich für jemanden, der den erhöhten und dadurch erst als blühend empfundenen Moment, die zwischenmenschlichen Finessen, die Aperçus und Bonmots stets inhaliert hat wie eine Droge und nun wie beim Monopoly wieder auf Anfang gesetzt wird. Sie ist von Beginn an überfordert. Dazu lässt sie sich noch die Idee aufschwatzen, da man ja nun nicht mehr arbeite, könne man ja zusätzlich noch gelegentlich die Kinder früherer jüngerer Arbeitskolleginnen betreuen. Wo kein Wille mehr ist, gibt es viele Wege - aber nur für Andere. So erfüllt sie zwar die ersten Jahre noch leidlich ihre Erziehungspflichten - sie funktioniert noch -, doch ihr Lebensweg wird danach relativ schnell in einen ruinösen Selbstzerstörungsprozess münden.
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