Doch jenseits ihres saloppen Gehabes wird auch noch etwas anderes für ihn spürbar, schimmert - für Bruchteile von Sekunden zwar nur, aber dennoch sichtbar - eine wohl leicht zu verletzende und wahrscheinlich auch schon verletzte Note durch ihren Blick, die aus ihrem Innersten zu kommen scheint, die dann in eine Form von Ernsthaftigkeit mündet, die von nichts anderem mehr als Vollkommenheit künden kann, die ihn so sehr anspricht und für sie einnimmt, dass sie ihm sämtliche Auswege versperrt - gut überspielt immerhin mittels einer eisernen Maskerade, aber nicht gut genug für ihn; denn, wenn er wirklich etwas gelernt hat in diesem Leben, dann besteht es wohl mit Sicherheit darin, die entscheidenden Informationen stets zwischen den Zeilen zu suchen, das Ungesagte, das durch die Tonlage mitschwingt, zu deuten. Der Gestus sowie die Körpersprache in als unbeobachtet angenommenen Momenten sagen ihm meist mehr oder etwas anderes über jemanden, als dieser darzustellen beabsichtigt. Ebenso charakterisiert für ihn die Art der Sprache, weniger, was konkret gesagt wird, oftmals sein Gegenüber, wobei er gerade in diesem Punkt immer häufiger eine sich verstetigende Unmäßigkeit, die sich darin ergeht, aus wirklich allem etwas herauslesen zu wollen, an sich festzustellen glaubt, die von seiner Umgebung zuweilen als Impertinenz oder gar einen Hang zur Indiskretion wahrgenommen zu werden scheint, und die nicht selten auch ihn selbst zu Fehlannahmen verleitet, die er dann oftmals nur mit viel Mühe und gemessener zeitlicher Distanz an sich heranlässt. Das liest er jedenfalls gelegentlich aus ihm gegenüber verstört wirkenden Gesichtern ab.
Was er zum Ausgang des Abends zu seiner Überraschung noch in Erfahrung bringt, ist, dass Viola aus Ostdeutschland stammt und in Österreich aufwuchs, nachdem sich ihre Mutter bei einer internationalen Sportveranstaltung abgesetzt hatte und eine erneute Ehe mit einem Mann eingegangen war, der in Graz lebte. Dort ist dann ihre wesentlich jüngere Halbschwester Marion geboren, mit der sie momentan zusammenwohnt. Viola arbeitet schon seit langem an der hiesigen Universitätsbibliothek.
Als sie das Tanzlokal gemeinsam verlassen, unternimmt er noch einen kläglichen Versuch, mit Viola zu flirten zu wollen, was er nicht nur nicht kann sondern auch seinem Naturell völlig zuwiderläuft, was sie selbstverständlich durchschaut und ihn daraufhin schroff am Arm zur Seite zieht.
»Marion und ich sind gemeinsam mit nur einem Auto da; sie hat immerhin den Kontakt zwischen uns hergestellt; sollen wir sie zum Dank allein nach Hause schicken? Also lass gefälligst das Geplänkel, es passt überdies nicht zu uns beiden! Wir haben schon zu viel zusammen versäumt, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an. Wenn du mir etwas zu sagen hast, hier ist meine Telefonnummer. Überlege gut, aber überlege nicht zu lange! Danke für den Abend. Mach's gut, Daniel.«
Daniel hatte bereits eine langjährige Beziehung zu diesem Zeitpunkt zu einer Russin namens Tamara, die für ihn alles zu erbringen schien, was er zu benötigen meinte. Diese lernte er erst mit Mitte dreißig kennen. Sie hat ihm sogar eine schon erwachsene Tochter überantwortet, die ihn bis heute ohne innere Not Vater nennt und ihm im übertragenen Sinne auch schon zwei Enkelkinder geschenkt hat. Ja, »im übertragenen Sinne«: Es gibt wohl kaum einen Ausdruck, der seine Befindlichkeiten, seinen Zugang zur Realität oder vielmehr das, was er dafür hält, besser charakterisiert. Denn wirkliche Bindungen hat er keine zu seiner Umgebung, ganz zu schweigen von Freundschaften.
Natürlich wohnt man nicht zusammen, das wäre für ihn entschieden zu viel aufgebürdeter Lebenspraxis, vor allem aber wäre es eine empfindliche Beeinträchtigung seines gedanklichen, meist zu nichts führenden Pseudoperfektionismus, den er niemandem zumuten will, der ihm wenigstens halbwegs nahezustehen glaubt.
Er machte ihre Bekanntschaft während seines letzten Ganges zur Universität, als er sein Zeugnis abholte - zeitlich die perfekte Nachzeichnung eines Neubeginns, zusammenfallend mit der Beendigung eines lange andauernden, strapaziösen Irrlaufes, der ihn fast die Existenz gekostet hätte und ihn zumindest materiell noch nachhaltig behindern würde, fehlte zu diesem Zeitpunkt doch bereits eine nicht zu vernachlässigende Anzahl an Rentenbeitragsjahren. Zum Glück haben ihn materielle Szenarios weder im Guten noch im Schlechten jemals ernsthaft berührt. Das ist wohl einem jener Effekte der ihm angediehenen Erziehung geschuldet, die seine Mutter gegen sämtliche Widerstände durchsetzen konnte.
Schon der Beginn seines schulischen Werdegangs in Richtung Gymnasium eingangs der siebziger Jahre war aus seiner heutigen Sicht weniger der Intention der Eltern, ihn einmal finanziell oder materiell besser gestellt zu sehen als vielmehr dem Drang nach Aufbruch und, was seine Mutter betrifft, Ausbruch aus ihrer inneren Bedrängnis, geschuldet, wofür sie in seiner vermeintlich vorzeichenbarer und vor allem konstruierbarer Entwicklung das geeignete Instrument wähnte.
Seine Eltern waren zwei Menschen, die sich wohl besser übersehen hätten, aber das war kaum möglich, denn sie entstammten Nachbarshäusern innerhalb einer Bergarbeitersiedlung, in denen dennoch die innerfamiliären Ausprägungen unterschiedlich in fast jeder denkbaren Beziehung waren. Sein Vater war zu jener Zeit jemand, der über Meisterbrief bei gleichzeitigem Hausbau sowie Weiterbildung zum Techniker zäh seine Lebensbahn zog, der auch schon eine gewisse kühle Modernität ausstrahlte, die zu der Hoffnung gereichte, zum immer noch allgegenwärtigen Muff der Fünfziger zumindest auf Distanz gehen zu können, doch das erwies sich dann doch als Illusion, stellenweise eine gefährliche sogar. Den offenen Konflikt wagen - das war in solchen Gefilden kaum denkbar, geschweige denn durchführbar. Zu sehr war man in dem Geflecht aus Bedingtheiten und Zugeständnissen, nicht zuletzt innerhalb des Verwandtschaftskreises, in dessen Fahrwasser man sich weitestgehend bewegte, beispielsweise beim Hausbau, gefangen. Das Pump - und Hebelwerk aus Abhängigkeiten, daraus resultierenden faulen Kompromissen und Verdrängung der eigenen wirklichen Wünsche, wo sie denn vorhanden waren, musste unbeirrt laufen, um vermeintlich vorwärts zu kommen. Der Weg hatte das Ziel zu sein, Besinnung war hier nicht vorgesehen. Das war der eigentliche Preis neben allem Habhaften, das war der Lebensdeal. Der materielle Aufschwung musste doch wohl genügen. Das für sich genommen wäre natürlich nichts Besonderes gewesen: So - oder so ähnlich haben viele Leute in jener Zeit agiert. Doch speziell aus dem Verwandtschaftskreis seines Vaters ist dann auch Vieles mit einer unerträglichen Begleitmusik vonstattengegangen, die man aus Dankbarkeit wohl glaubte, hinnehmen zu müssen. Die tonangebenden älteren Geschwister auf beiden Seiten, waren durchweg Figuren der fünfziger Jahre. Die Geburtstage oder sonstige Familienfeiern beispielsweise, die dann im neuen Haus abgehalten wurden, glichen eher im wahrsten Sinne des Wortes Sitzungen, wo die nassrasierten Ältesten ihre Monologe abhielten. Fragen waren hier keine erlaubt, höchstens solche, die keine sind, geschweige denn Kritik. Geprägt noch zur Unzeit - was keineswegs als Vorwurf taugt - legte man, falls denn wirklich einmal die joviale Fassade angekratzt wurde, untermalt aus alterslosen, spitzbübigen Gesichtszügen, eine fein ziselierte, aber dennoch barsche Diktion an den Tag, die überhaupt keinen Zweifel daran lassen sollte, dass man, mit Sekundärtugenden im Übermaß ausgestattet, keine Infragestellung der Befindlichkeiten wünscht - und überhaupt verböte sich angesichts der Lebensleistung jede Form von Diskussion. Was sollte auch darüber hinaus noch zu sagen sein. Es gibt kein Entrinnen, es kann keines geben. Es war immer alles klar und es hat keinen wirklichen inneren Bruch gegeben. Alternativen muss man zumindest gesehen haben, aber wo sollte das sein, wo sollte sich der Spielraum dafür auftun, wenn doch immer alles geregelt ist. Seine Eltern leiden sichtbar und fühlbar unter dieser ganzen Gemengelage, diesen ranzigen Ausdünstungen der fünfziger Jahre, das ist für ihn bereits als Heranwachsender, wo man noch über ein besonders unvoreingenommenes, unverfälschtes Gespür verfügt, regelrecht greifbar. Widerspruch wäre genug da, aber er ist nicht vorgesehen und somit kann es auch nirgends den dafür nötigen Rückhalt geben - und das ist entscheidend. Darüber hinaus bräuchte man natürlich für neue Ansichten auch eine unverbrauchte Sprache.
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