„Das Leben ist ein äußerst gefährliches, führt garantiert zum Tode“, stellte sie fest.
„Ja, aber nicht schon als Kleinkind.“
„Sachen, die ein wenig gefährlich sind, sind meist interessanter und dann auch lustiger. Diese öden, abgesicherten Spielplätze, wo Kinder nur ganz bestimmte Bewegungen in ganz bestimmter Reihenfolge machen können, scheinen sicher, sind es aber nicht.“
„Nun, immerhin kann nicht leicht etwas passieren.“
„Oh doch, gerade dort passiert es. Dort werden böse Seelen gezüchtet, die anderen absichtlich das Schauferl verbiegen oder wegnehmen, damit sie sehen, wie das andere Kind weint. Oder die dem kleineren das Küberl über den Kopf braten, dass er blutet, damit sich irgendein Erlebnis einstellt. In dieser langweilig öden, anscheinend sicheren Welt wird die echte Gefahr gezüchtet. Die Keime der Bösartigkeit wuchern, das ist ein gutes, mildes Klima dafür. Gelangweilte kleine Teufel schöpfen ihre Potentiale aus.“ Sie sagte das freundlich, ausdruckslos.
Ezra überlegte sofort: War er damals, früher am Spielplatz, ein gelangweilter kleiner Teufel gewesen? Hatte er anderen das Schauferl übergebraten? Er konnte sich nicht erinnern. Wenn einer weinte oder blutete, hatte er einen seltsamen Gefühlsmatsch in seinem Bauch gehabt, zwischen Mitleid, Hilflosigkeit und Neugier. Eigentlich ähnlich wie er gerade jetzt den Tod von Eve erlebte.
Sie nahm sich einen Schemel zum Tisch. „Bösartigkeit ist nicht aus der Menschheit zu bekommen. Gewalt auch nicht, aber in der Verödung der Gefahrlosigkeit blühen die miesen Triebe.“ Sie nahm einen festen Bissen von einem Haferkeks.
Sehr dunkelbrauner Tee ergoss sich in seine Schale. Ezra schaute den Strahl an, der aus der Kanne kam. Er überlegte, ob er fragen konnte, wer da klopfte. Was die Kinder wohl damit gemeint haben könnten? Wer klopfte im Keller? Aber schließlich fühlte sich die Frage seltsam an. Kinderspiel allzu ernst genommen? Sie würde ihn wahrscheinlich nur eigenartig anschauen, mit einem kleinen Lächeln. Daher sagte er: „Haben Sie gehört, dass eine Journalistin ermordet wurde? Gestern Abend auf der Veranstaltung.“
„Ja, Eve. Es ist schlimm.“ Sie wirkte traurig.
Woher kannte sie Eve Lesnault?
„Ich glaube, Eve hat viel für diese Veranstaltung getan, sie war ihr wichtig.“
Sie schien Eve gut zu kennen.
Ezra fragte: „Woher kannten Sie Eve?“
„Wir hatten einen gemeinsamen Mann in jüngeren Jahren. Wir gehörten zu einer gemeinsamen Clique.“ Sie nahm Ezras erstaunten Blick war. „Eve stammt ja hier aus dem Ort. Vom Gut kommt sie. Sie war ein paar Klassen über mir, in jeder Hinsicht, aber auch in der Schule. Sie ist in die gleiche Schule gegangen.“ Sie nahm noch ein Stück Zucker, das fünfte. Sie rührte gedankenverloren in dem dunklen Gebräu. „Eve war immer eine schöne Frau, aber sie hatte kein Sitzfleisch. Hat immer neue Dinge begonnen und ist dann davongelaufen.“ Sie rührte weiter. „Auch mit Männern war sie so.“ Sie nahm einen Schluck und spuckte ihn in die Tasse zurück. „Bäh, grauslich, viel zu süß.“ Sie stand auf und schüttete den Tee in die Spüle. „Viel zu süß“, wiederholte sie leise zu sich selbst.
Ezra verstand, sie streifte gerade durch die Welt ihrer Vergangenheit mit Eve. Er überlegte fieberhaft wie er sie dazu bringen konnte, ihm etwas von dieser Vergangenheit zu erzählen. Er wollte mehr wissen, mehr hören. Die Frau stand da, die leere Tasse in der Hand und einen Löffel in der anderen. Ihr Blick aus dem Fenster gerichtet, ohne Ziel.
Er startete einen Versuch: „Eine Clique ist etwas Wunderschönes. Ich hatte immer große Sehnsucht danach. Ich bin ein Einzelkind mit zwei Müttern.“ Er lächelte sie an. „Ich durfte meine Freunde mitbringen, wenn sie aus nicht allzu zwielichtigen Familien kamen, aber eine Clique ist etwas viel Tolleres. Eine ganze Gruppe, mit denen man abhängt, mit denen man einen Blutsbund schließen kann, die für einen durchs Dickicht gehen…“
Sie schaute ihn an und lächelte, nachsichtig und ein wenig traurig. „Ja, so ist das in den Träumen kleiner, einsamer Buben. Die Wirklichkeit ist nicht ganz so.“ Ihr Blick wanderte wieder beim Fenster hinaus. Abrupt wechselte sie das Thema. „Die drei Mädchen sind gar nicht so ungewöhnlich. Man möchte glauben, dass sie Hochbegabte sind, oder fremdartiges Verhalten zeigen, aber so ist das nicht. Im Grunde sind es ganz normale kleine Mädchen mit ganz normalen Wünschen. Es passieren nur ungewöhnliche Dinge um sie herum.“
„Ja, das habe ich gehört. Der nasse Mobb hatte auch die Aufgabe, diese teuflische Gabe zu bekämpfen. Die Hausfrau hat große Angst, dass die mystischen Ereignisse Überhand nehmen könnten.“
Sie lachte und goss sich neuerlich Tee in die Schale.
Ezra erzählte weiter: „Meine Hausfrau hat gemeint, dass dafür bezahlt werde, und wenn der Teufel Silberlinge riecht, ist er kaum zu stoppen.“
„Aber ja! Gelegentlich wird auf Wunsch eine Sitzung abgehalten. Wenn jemand das wünscht, zahlt er auch dafür. Wenn ich mir wünsche, dass ein anderer für mich etwas tut, muss ich das doch immer bezahlen. Was ist daran gegen die guten Sitten?“
„Organisieren Sie das?“
„Organisieren ist zu viel gesagt. Ich unterstütze die Familie. Ich bin eine Halbschwester von der Mutter.“
„Ach so, die Kinder sind oft bei Ihnen?“
„Die Mutter ist seit Jahren arbeitslos und Vater gibt es keinen. Es ist auch eine Notsituation.“ Sie sagte das grimmig wütend. „Jeder benützt seine Gaben, um das Geld zum Leben bereitzustellen. Wenn Leute fragen, dann antworten wir.“
„Ja, aber die Menschen erwarten etwas für ihr Geld.“
Da sagte sie ganz still: „Da gibt es ein Volk hier, und über dem großen Wasser auch, von dem wird berichtet, dass die Körper zwar wuchsen, aber sonst blieben sie immer Kinder. Der König staunte sehr und konnte sich das Problem nicht erklären. Er suchte nach einer Lösung. Er musste diesen Menschen helfen, zurechtzukommen. Er suchte Hilfe für die Armen, deren Vater er doch war. Schließlich gab er den Auftrag, ihnen einen Ort zu schenken, wo sie sich selbst erkennen konnten, wo sie Rat und Leitung fanden …“ Ihre Erzählung versiegte. Dann fing sie neu an:
„Vielleicht sind die drei Mädchen weise Greisinnen, die helfen sollen? Man merkt es ihnen bloß nicht an, und sie werden auch noch wachsen. Jetzt sind sie klein und brauchen manchmal selbst Hilfe, um helfen zu können.“
„Und was geschieht in diesen Séancen?“ Endlich konnte Ezra die richtige Frage stellen. Wurde dort geklopft? Doch er bekam keine Antwort. Sie legte sorgfältig einige Holzspäne in einen Bronzekessel, kleine blaue Flammen schlugen hoch. Sie wartete, bis das heruntergebrannt war, und legte dann einen kleinen Kegel rauchender Blätter aus einem roten Ledersack hinein.
Der Rauch stieg auf. Sie sagte kein Wort. Der Geruch war nicht nur angenehm, nicht nur wohltuend. Da war eine andere Note drin. Etwas Scharfes stieg in Ezras Nase, etwas Scharfes, das ihn herausfordern wollte, und gleichzeitig das dumpfe Aroma von Schweiß und Lust. „Hexenküche?“, fragte er. Die Situation schien aus der Realität zu gleiten. Er musste sie einfangen, festhalten, er konnte das nicht zulassen. Sie reagierte nicht und fütterte ihren Kessel weiter mit kleinen Stückchen aus dem roten Beutel. Der Geruch wurde immer schärfer, schließlich mochte er die Situation nicht mehr. Er stand auf, murmelte einige Konventionen und ging. Vor der Türe nahm er einen tiefen Schluck kalter Frühlingsluft.
Ohne besondere Freude beschloss Ezra, in seine Pension zurück zu gehen. Er konnte schließlich nicht zum Straßenkind werden, nur damit er für sein abgerissenes Mantelschlingerl nicht gerade stehen musste. Straßenkinder waren in den Augen seiner beiden Mütter immer sehr negativ gewesen. Außerdem war es ziemlich kalt.
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