Aber John C. ist, wie die Ermittler in ihrem Schlußwort schreiben, keineswegs vergangen und vergessen, sondern lebt in mehr als zweihundert Nachkommen, die mit seinen kraftvollen Spermien gezeugt wurden, weiter. Die Rocky Mountain Cryobank hingegen gibt es schon lange nicht mehr. Die Bogdanows mußten 1998 Insolvenz anmelden, worauf ihr gesamter Bestand an eingefrorenen Spendersamen von der Boston Cryobank günstig aufgekauft wurde.
Und hier in South Boston, in einem grauen Büroblock, der geographisch keine zwanzig Kilometer, ansonsten aber Welten vom Geldadel der Ostküste, von Harvard und vom MIT entfernt liegt, war eine junge, neu eingestellte Mitarbeiterin, die es im Leben zu etwas bringen wollte, monatelanglang kreativ und hat ein bißchen gute Fee gespielt. Voller Lust und Schöpferkraft hat sie den seit Jahren und Jahrzehnten eingefrorenen Samen aus Wyoming in ihren gelblichen und mit Rauhreif betauten Glasröhrchen neue Väter zugewiesen, hat diesen andere und glanzvollere Biographien geschenkt, hat aus Automechanikern Nobelpreisträger, aus Farmern Hollywood-Schauspieler, aus Obdachlosen Mathematiker, aus Landstreichern Topmanager und aus Taglöhnern Weltklassepianisten gemacht, hat also das Leben, wie es ist, durch eines, wie es sein sollte, ersetzt, was vollkommen verständlich ist, denn Mythen, Märchen und Romane tun das seit jeher. Irgendwann kommt die neue Kreativkraft auch an das Profil von John C. Kloehr, und da denkt sie sich: vorbestraft, Ex-Soldat, Gelegenheitsarbeiter, Vietnamkrieg, arbeitslos, rothaarig, sommersprossig, spindeldürr, Essensmarken, Sozialhilfe, geschieden, abgebrochene High-School: das klingt nicht gut. Hier ist Fantasie notwendig, also träumt sie ein bißchen, denkt an Männer, die sie mag, an Geschichten, die sie gehört hat, bis ihr schließlich einfällt: Südländischer Typ, dunkle Augen, schwarze Haare, sehr groß, schlank. Blutgruppe A Positiv, Quantenphysiker, promoviert, Schachspieler etc.
Ganz hinten enthält das Dossier der amerikanischen Privatdetektive noch einen Anhang mit Fotos. Es sind richtig viele Fotos, und einige sind sehr interessant. Hier sieht Britta nun das windschiefe, längst verlassene Holzhaus der Kloehrs mit dem angebauten Stall und dem Ententeich davor, den Dreck und das Gerümpel, das überall herumliegt, die zerbrochenen Holzbohlen der Veranda, auf der schon lange keiner mehr sitzt, während sich die lange Reihe der Silberpappeln bis zum Horizont hinzieht wie eh und je. Aber komisch, gleich nach den ersten Bildern hat sie das Gefühl, als würde sie dieses Haus kennen, sogar richtig gut kennen, und zwar nicht nur von außen, nein, auch von innen. Sie hat das unheimliche Gefühl, als hätte sie diese Bruchbunde schon einmal betreten, obwohl sie in ihrem Leben nur einmal in den USA, da aber nicht in Missouri und schon gar nicht in so einem Drecksnest gewesen ist. Und dann sieht sie das Zimmer zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder, dieses Wohnzimmer, das sie einmal so sehr begeistert hat. Die Perspektive ist eine andere, der Christbaum fehlt, aber sonst ist alles da: der wackelige Tisch auf den Spinnenbeinen, das abgewetzte Sofa, der fadenscheinige Teppich und das uralte Radio auf einem Beistelltisch. Der schwarzhaarige Junge, der ihr einmal so gut gefallen hat, ist diesmal nicht auf dem Foto zu sehen, dafür steht mitten im Raum ein dicker Junge mit einem kugelrunden Kopf und einem schiefen Gesicht und hält ein Feuerwehrauto in die Kamera. Das, haben die Ermittler herausgefunden, war John C. Kloehr als Kind – und nicht der schlanke Junge mit den schwarzen Haaren und den schönen Augen.
Sie sitzt die ganze Nacht vor dem Laptop und liest und liest und liest. Als die Dämmerung durch die Rolladen dringt, die Vögel anfangen zu singen und ein roter Streifen über den Baumwipfeln erscheint, da hat sie ein Gefühl, das sie in ihrem Leben noch nie gehabt hat: Das Leben ist sinnlos, weil die Welt keine Ordnung hat. Wenn das, was in diesem Dossier steht, wahr ist, dann sind die Annahmen, auf denen die Welt, ihre Welt, einmal beruhte, zusammengebrochen, dann hat man sie, als sie ein Kind war, belogen, dann war all das, was man ihr erzählt, beigebracht und vermittelt hat, ein Gespinst von Lügen. Dann existiert all das, worauf ihre Welt gebaut war, nicht: Recht und Unrecht, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge.
Natürlich: in der Politik, da wird gelogen, da geht es gar nicht anders. Wer die Wahrheit sagt, wird nicht gewählt – das weiß jeder. Da hat sie auch schon gelogen, damals bei diesem Planungsfeststellungsverfahren zum Beispiel, denn sonst wäre die Begrünung der Flachdächer mit Miscanthus doch nie genehmigt worden. Aber das war für einen guten Zweck, auch wenn es sich später als ein katastrophaler Fehler erwies, weil keiner an die Drainage gedacht hatte. Und am Anfang, als die Gutachten verfaßt wurden, da erschien das wie eine gute Sache.
Aber in der Politik zu lügen, das ist etwas anderes, als hier zu lügen, wo es um Kinder geht, um das Leben, um ewige Dinge also, um Biographien, die plötzlich eine ganz andere Wendung nehmen. Als sie weinend und rotäugig vor dem Bildschirm sitzt, der von den Morgensonnenstrahlen nun erfaßt wird, da kommt es ihr so vor, als ob jemand Rotkäppchen geändert hätte oder Schneewittchen, da ist es ihr, als hätte jemand die Geschichten vollkommen verdreht, so, als sei das Rotkäppchen der Wolf, die Königin die Gute, Schneewittchen die Böse und die Zwerge ein paar pädophile Drecksäcke.
Bert kämpft sich ein Wochenende lang mit dem Lexikon in der Hand durch den Bericht der Detektei. Als er fertig ist, erwartet Britta Mitgefühl und Solidarität und entrüstete Abscheu gegenüber den Praktiken der amerikanischen Samenbanken. Aber sie wird enttäuscht. Eine Woche lang sagt er gar nichts dazu, kommt spät heim, raucht seine Pfeife, liest seine Fachzeitschriften, spielt wieder öfter Trompete, ist aber stets heiter wie seit langem nicht mehr, nur die Kinder, die behandelt er wie Luft. Irgendwann verliert sie die Geduld und fragt ihn geradeheraus, was mit ihm los sei und was er von der ganzen Geschichte hält.
Und dann, ganz plötzlich, schreit er, tobt, rast und schäumt so, wie sie ihn noch nie erlebt hat. Bert ist kleiner als sie, unsportlich und inzwischen ziemlich dick, aber zum ersten Mal hat sie Angst vor ihm. Er zertritt Möbel und Stehvasen, haut in Bilder und Spiegel, schmeißt den neuen Fernseher von seinem Sockel und zerschlägt mit dem Schürhaken die Vitrine mit den Glastieren von Swarovski, bis von allem nur noch Splitter übrig sind. Sie stellt sich weinend vor die Kinder, aber er beachtet sie gar nicht, sondern schlägt das Wohnzimmer kurz und klein. Als er fertig ist, beruhigt er sich ebenso plötzlich, wie er vorher in Rage geraten ist, und erklärt ihr dann ruhig und ernst, daß er sie verlassen und zukünftig weder mit ihr noch mit den Kindern noch mit irgendeinem anderen Detail dieser elendigen Scharade etwas zu tun haben werde. Sie kann im Haus wohnen bleiben, dafür wird er keinen Ehegattenunterhalt zahlen, er war schon beim Anwalt, er hat sich erkundigt, für die Kinder wird er gar nichts bezahlen, da es ja nicht seine sind, den Hausrat will er gerecht aufteilen, das heißt: alle Sachen, die er mit in die Ehe gebracht hat und alles, was er bezahlt hat, nimmt er mit und zwar schon morgen, da kommt der Möbelwagen.
„Du kannst mich doch jetzt nicht sitzenlassen, nicht in dieser Situation, mit drei Kindern und einem Prozeß vor mir.“
„Aber sicher. Das geschieht dir recht. Zu dir konnte man doch nie ein Wort sagen. Du mußtest doch diese Kretins, diese Mißgeburten vom letzten amerikanischen Misthaufen, diese Nachkommen eines Verbrechers, diesen genetischen Scheißdreck aus der schlimmsten Gosse in unsere gute Stube holen, nur damit du die Frau Mama spielen kannst wie alle anderen auch.“
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