Im Heim gewann ich immer mehr an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen, und damit den Mut mich gegen meinen Klassenkameraden zu wehren, die mich unter anderem mit Klobürsten bewarfen. Sie hatten zwar mitbekommen, dass ich nicht mehr zu Hause wohnte, aber das war kein Grund für sie, mich mit ihren boshaften und egoistischen Taten in Ruhe zulassen. Aber dann kam der Zeitpunkt, an dem ich mich zur Wehr setzte. Ich schlug zurück und schrie sie an. Danach hatte ich meine Ruhe, und sie akzeptierten mich. Es war ein gutes Gefühl. Ich hatte etwas an meiner häuslichen und schulischen Situation geändert. Es gab keine Qual mehr. Ich fuhr gern ins Heim, mein neues Zuhause, und auch in die Schule.
In dieser Zeit erwachte meine Begeisterung für das Fahrradfahren. Ich fuhr täglich wenigstens einmal vom Heim zur Schule, eine Strecke von über fünfzehn Kilometern. Das machte sich auch an meinen Körper bemerkbar. Der Sport und die regelmäßige Ernährung machten sich bemerkbar. Im Heim bereiteten wir die Mahlzeiten gemeinsam vor und speisten zusammen. Zu Hause hatte ich mir nach der Schule erst mal einen Liter Pudding.
Ich fahre auch heute noch leidenschaftlich gern Fahrrad. Sogar so gern, dass ich hin und wieder an Radrennen teilnehme. Ich finde es einfach toll. Diese Ruhe, die Nähe zu der Natur und das Alleinsein. Auf dem Rad bin ich nur für mich. Ich kann nachdenken, aber auch einfach den Stress rausfahren. Am schönsten ist es, während einer Trainingsfahrt eine Pause einzulegen. Einfach im Grünen einen Stopp einlegen, dort, wo keine Menschenseele ist, sich ins Gras legen und den Himmel beobachten oder die spiegelnde Oberfläche eines Sees betrachten. Ich liebe diese Momente. Gleichzeitig ist das ein Sport, bei dem man immer wieder an seiner Leistungsgrenze stößt und sie durchbrechen will. Ähnlich wie in meinem Leben, in dem ich immer neue Herausforderungen suche, die mich von meinem Schmerz ablenken.
In den ersten Wochen und Monaten im Heim verschloss ich mich. Es gab zwar viele Momente, in denen ich auch mit den anderen Kindern zusammen war, aber ich suchte täglich meine Ruhe. Die Kinder waren sehr unterschiedlich. Es gab die Großen, die auf ihren Auszug vorbereitet wurden. Einige von ihnen waren in meiner Altersgruppe und in einer anderen Gruppe, gab es auch Kinder, die gerade mal zehn und jünger waren. Ich schloss mich meist den Kindern meines Alters oder den Älteren an. Meine Erinnerungen an dieser Zeit sind schön. Sie lassen mich lächeln. Es gab Fernsehabende und Ausflüge mit der ganzen Gruppe. Nachdem ich etwas aufgetaut war, genoss ich am meisten die Fernsehabende, da die Erzieher dann immer mit und kuschelten. Als ich mich endlich dafür öffnete, war es das Schönste, ihre Nähe und Geborgenheit zu fühlen. Die Betreuer waren immer für jeden da.
Es gab leider auch Momente, die mich ängstigten und mir das Gefühl gaben, dass ich nirgendwo sicher sein konnte.
In den Ferien sind viele nach Hause zu ihren Eltern gefahren. Ich gehörte nach den Tod meines Opas nicht mehr zu den Glücklichen. Die meisten Ferien verbrachte ich im Heim. Es gab eine Zeit, da war ich mit einem Jungen in meinem Alter allein im Heim. Die Erzieher waren unten im Büro. Ich weiß noch ganz genau, wie ich erwachte und ihn mit heruntergelassener Hose vor meinem Bett erblickte. Ich bekam Angst und fühlte mich einen Moment gelähmt. Dank meines gewonnenen Selbstvertrauens konnte ich mich wehren. Ich brachte zwar keinen Ton heraus, nahm aber seinen Penis und drehte ihn kräftig um. Ich sah, dass im verschmerzt Tränen in die Augen traten und sagte ihm, dass er mich nie wieder anfassen sollte. Fortan hielt der Abstand zu mir. Glücklicherweise war er in einer anderen Gruppe. Aus dem Gefühl heraus, dass mir eh keiner glauben würde, vertraute ich mich keinem Erzieher an.
An das Heimgrundstück schloss ein kleiner Karpfenteich an. Wir mussten nur durch den Zaun und schon waren wir da. An diesen Teich habe ich viele schöne Erinnerungen. Wir Kinder oft Sommer wie Winter da. Er war dreckig, aber wir schwammen trotzdem darin.
Mein Heimaufenthalt war gefüllt mit positiven Erlebnissen. Es gab Ausflüge, Ferienfahrten und das, was ich am meisten liebte, die Kuschelabende vor dem Fernseher. Ich genoss es, in dieser Gemeinschaft zu leben. Eine Gemeinschaft, die zusammenhielt, wo alle am Verlust des Elternhauses litten und aufgrund schlechter Erfahrungen geprägt waren.
Als ich ungefähr fünfzehn war, stand fest, dass wir aus dem alten Haus raus mussten. Die Sanierungsarbeiten waren für den Staat zu teuer, und so bekamen wir ein Gebäude in dem Ort, in dem meine Eltern wohnten. Diese Nähe und die Möglichkeit, dass ich ihnen jederzeit über den Weg laufen konnte, bereitete mir große Angst. Es gab aber keine andere Möglichkeit und so musste ich mich mit dem Umzug abfinden.
Mit dem Umzug kamen nicht nur meine Ängste wieder, sondern es taten sich neue Probleme auf, die vermutlich der neuen Situation geschuldet waren. Ich war damals bei einer Psychologin in Behandlung. Während der vielen Sitzungen sollte ich mein Trauma mit ihr aufarbeiten. Es fiel mir sehr schwer, über die sexuellen Übergriffe meiner Mutter zu sprechen, zu groß war meine Scham. Ich weiß heute leider nicht mehr, ob ich wirklich ins Detail gegangen bin. Ich bezweifele es, da ich heute noch nicht darüber reden kann. Aber vielleicht lag es auch an dem Gespräch, das meine Psychologin in die Wege geleitet hatte. Ich sollte im Beisein meiner Eltern, meiner Bezugserzieherin, und der Sozialarbeiterin vom Jugendamt, sagen, warum ich von zu Hause weg bin. Ich hatte riesige Angst davor, Tage zuvor plagten mich Albträume. Schon der Gedanke, dass ich mit meiner Mutter in einem Raum sitzen musste, war angsteinflößend genug.
Ich kam aber nicht darum herum. Das Gespräch fand stand. Da ich keinen Ton herausbrachte, sprach meine Psychologin. Meine Mutter rastete aus, wurde laut und verließ mit bösartigen Beschimpfungen den Raum. Sie stellte mich als Lügnerin hin. Mein Vater verließ kurz nach ihr den Raum. Ich weiß nicht, ob die anderen mir geglaubt haben. Ich bezweifle es. Wie oft kommt es schließlich vor. Nach dieser Gegenüberstellung ging ich nicht mehr lange zu der Psychologin, denn ich hatte auch ihr gegenüber Zweifel, ob sie mir glaubte.
9. Mein zweiter Suizidversuch
Im Heim entdeckte ich das Gefühl des Verliebtseins. Irgendwie war jeder mal mit jedem zusammen. Die Beziehungen hielten dadurch auch nicht lange. Aber ich denke, das ist in der. Pubertät normal. Mit fünfzehn hatte ich meinen ersten Freund außerhalb des Heims. Er war einige Jahre älter als ich, arbeitete schon und fuhr Motorrad. Er war lieb und verständnisvoll, drängte mich nicht. Einmal durfte er mit mir und einer befreundeten Heimbewohnerin und deren Freund bei uns zelten. Es war ein lustiger Abend, an dem ich zum ersten Mal viel Alkohol trank. Glücklicherweise machte mich der Apfelkorn nicht ganz so betrunken, wie es die beiden anderen von Goldkrone waren. So kam es nur zu unendlich vielen Knutschflecken. Es waren so viele, dass ich die nächsten Tage ein Halstuch tragen musste. Nach einigen Monaten kam leider auch die Zeit, da mein Freund mit mir schlafen wollte. Ich war verliebt und er wollte zum Schluss nur noch mit mir schlafen. Er konnte nicht verstehen, warum ich mich dagegen wehrte. Kurz danach endete die Beziehung und ich hatte meinen zweiten Suizidversuch. Ich verstand nicht, warum alle nur meinen Körper wollten. Da waren wieder dieser Druck und der Zwang, den auch meine Mutter auf mich ausgeübt hatte. Ich hatte bis dahin noch nicht über dieses Erlebnis gesprochen und verstand nicht, warum Sex so wichtig war. Das Gefühl war erdrückend. Ich sah keinen anderen Ausweg, als Tabletten zu nehmen, um meinem Gefühlschaos ein Ende zu bereiten. Ich wollte diese Angst und den Druck des Verlassenwerdens nicht mehr spüren.
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