Eine weitere Tätigkeit, welcher in jedem Lager stets einige Männer nachgingen, darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden: das Studium der Gefechtstaktik. Manche gingen ihm unter der Anleitung eines befreundeten Offiziers nach und manche trieb die Ambition auf eine Beförderung an. Andere wollten eine angesetzte Prüfung bestehen, für deren Primus ein Heimaturlaub ausgelobt war. All diese Männer mit ihren grundverschiedenen Motivationen steckten also ihre Nasen in die Bücher. Der Mehrzahl der einfachen Soldaten war jedoch die praktische Seite des Kriegshandwerkes bereits mehr als genug und sie wollten sich nicht auch noch mit der theoretischen Seite herumplagen. Die Männer gaben sich jeder verfügbaren körperlichen und geistigen Zerstreuung hin und taten ihr Bestes, um die Stunden möglichst rasch verstreichen zu lassen. Selbst jene Soldaten, die erst einen winzigen Bruchteil ihrer drei Jahre abgedient hatten, riefen nach jedem vergangenen Tag mit gespieltem Frohsinn aus: "Nur noch zwei Jahre und ein bisschen!"
Kapitel 06: Jonas und Plagen
"So hört mein Lied, ihr lieben Leute,
Das ich in meiner Not ersann;
Euer Mitleid erbitt' ich heute,
Ich bin ein vom Glücke verlassener Mann.
Es war unter Sternen des Unglücks,
Dass das Licht dieser Welt ich erblickt'
Und mein Leben, im Lichte des Rückblicks,
War stets voll des Leids und verzwickt.
Und so spottet nicht ob meiner Nöte,
Sondern denkt voll des Mitleids daran:
Ich bin ein verlorener, schrecklicher, furchtbarer, trostlos unglücklicher Mann."
– aus einem alten Liede
In einem der vorigen Kapitel erwähnte ich, dass ein Sibley-Zelt Platz genug für zwölf Bewohner bot. Jene Behauptung muss ich an dieser Stelle ein wenig relativieren. Wenn jeder dieser zwölf Männer schlafend auf dem Boden lag, kamen sie einander nicht in die Quere. Wenn jedoch einer dieser Männer nächtlichen Postendienst zu versehen hatte, zudem vielleicht noch für die dritte Wachablösung eingeteilt war, welche in meiner Kompanie von Mitternacht bis 02.00 Uhr auf Posten stand, und um diese Uhrzeit sein Zelt betrat, wurde es schon ungemütlich. Befand sich sein Schlafplatz dann auch noch gegenüber des Einganges und der Heimkehrer trat bei der Suche nach seiner Decke auf den bestrumpften Fuß eines mit lauter Stimme und hitzigem Temperament gesegneten Schläfers, so schleuderte dieser dem Neuankömmling eine kurze aber aussagekräftige Probe seines gesalzenen Vokabulars entgegen. Kam unser eingeschüchterter Mann unter dem Eindruck dieser Tirade nun auf die Idee, mittels eines Sprunges die übrigen Schläfer zu überwinden und mit einem glücklichen Satz auf seiner Bettstatt zu landen, so schlug er hierbei wahrscheinlich in seinen Bettnachbarn ein, worauf dieser aufstöhnte und Laute ausstieß, als läge er im Todeskampf. Derart wuchsen die Nöte des armen Postens stetig weiter an und sobald sein letztes Opfer ausreichend bei Sinnen war, um zu erkennen, dass es nicht von einer Kanonenkugel zerschmettert worden war und nicht auf einer Trage ins Lazarett geschafft werden musste, entströmten auch seinem Munde die bittersten Flüche und so erfüllten die Schreie der beiden Opfer die Nachtluft mit den wüstesten Schmähungen wider den verdammten Burschen der dritten Wachablösung. Hiervon wurde nun der Rest der Zeltbewohner geweckt und in ihrem Zorn ob der rüden Störung stimmten auch sie in das Wutgeheul ein. Der anhaltende Lärm veranlasste schließlich die Männer in den angrenzenden Zelten, sich ebenfalls Gehör zu verschaffen: "Maul halten!", "Holt den Sergeant der Wache!", "Legt euch endlich hin!", "Schießt den Kerl nieder!", "Steckt ihn hinter Gitter!" ... Diese und ähnliche Rufe wurden von den umliegenden Zelten herüber gebrüllt.
Endlich legt sich dieser Sturm im Wasserglas und als der Sergeant der Wache auftaucht, um den Tumult zu untersuchen und die verantwortlichen Unruhestifter gemäß den bestehenden Lagerregularien und den Anweisungen des diensthabenden Offiziers wegen Störung der Nachtruhe in Arrest zu nehmen, trifft er auf vollkommene Stille. Keinem der Männer ist mehr daran gelegen, seine Kameraden ans Messer zu liefern, denn die kurzzeitig erhitzten Gemüter haben sich bereits abgekühlt. Der Sergeant kann nicht einmal mehr mit Sicherheit ermitteln, in welchem Zelt der Tumult seinen Anfang nahm.
Selbstverständlich unterlief auch dem umsichtigsten und sorgfältigsten Manne hin und wieder ein Missgeschick, doch jener Typus Soldat, den ich oben geschildert habe, war in jeder Gruppe innerhalb eines Lagers anzutreffen. Ein solcher Mann wurde "Jona" genannt, da er vom Peche verfolgt zu sein schien. Wenn ein Jona seinen Blechteller bis zum Rand mit heißer Erbsensuppe gefüllt hatte, konnte man sich beinahe darauf verlassen, dass er beim Betreten seines Zeltes einen Teil davon in jemandes Nacken verschüttete. Je höher er den Teller über seinen Kopf hielt, desto sicherer schien er sich zu fühlen, während er sich zu seinem Platze im Zelt navigierte, doch sobald er seine Suppe auf Augenhöhe herabsenkte, schwappte unweigerlich auch noch der Rest auf die umherliegenden Decken.
Ein Jona verteilt seine Erbsensuppe
Richtete seine Suppe ausnahmsweise kein Unheil an, so stieß er mit traumwandlerischer Sicherheit die Kaffeetasse seines Nachbarn um, welche dieser nur für einen Augenblick abgestellt hatte, um seinen Knietisch auf dem Schoß auszubalancieren. Die wortreichen Entschuldigungen des Jona (und diese waren stets wortreich und zugegebenermaßen auch ernst gemeint) waren gänzlich unzureichend, das angerichtete Leid zu lindern. Jeder andere Soldat im Zelt hätte mit arglistigem Vorsatze diese Tasse in hohem Bogen aus dem Zelt hinaus treten können und es wäre ihm weniger aufgebrachte Empörung entgegengeschlagen als jenem unbeholfenen Pechvogel für sein aufrichtiges Versehen. Womöglich wollte er sich die Tinte eines anderen Soldaten borgen. Natürlich konnte dieser sie ihm nicht rundheraus verwehren. Womöglich hatte der Soldat sie mit aus der Heimat geschicktem Tintenpulver angerührt ... vielleicht war es sogar der letzte Rest seines Pulvers und er wollte selbst einen Brief damit schreiben. All dies tat nichts zur Sache. Der Jona nahm die Tinte zufrieden entgegen, versprach, sorgsam auf sie achtzugeben, verstaute sie vorsichtig in einem kleinen Kistchen an seiner Seite und stieß dieses fünf Minuten später mit gewohnter Zuverlässigkeit um.
Das Lagerfeuer vor dem Erscheinen des Jona
Der folgende Jona war ein begeisterter Koch. Man konnte ihn nahezu den gesamten Tag hindurch (und auch in den Nachtstunden, sofern er Posten stand) am Lagerfeuer finden, wo er irgendetwas in einer Tomatendose oder seiner Blechtasse zubereitete. Hin und wieder warf er verstohlene Blicke um sich und holte aus den Tiefen seiner Uniformjacke oder seines Brotbeutels ein kleines Päckchen hervor, dessen Inhalt er prisenweise in sein Gebräu streute. Im Laufe seines kulinarischen Treibens geschah es auch, dass er sein volles Potential als Pechvogel entfaltete. Er erschien am Lagerfeuer (das er, nebenbei bemerkt, niemals selbst entzündete), um sich und seinem Essgeschirr die besten Plätze zu sichern und wenn sich dann auf den beiden Holzbalken, welche in der Regel ein Lagerfeuer einrahmten, dicht die abgestellten Kaffeetassen seiner Kameraden drängten, konnte der zerstörerische Genius des Jona diese Gelegenheit einfach nicht ungenutzt verstreichen lassen. Der Gedanke schoss ihm in den Kopf, dass er sich dringend noch irgendetwas borgen müsse und er sprang unvermittelt auf, um zu seinem Zelt zu eilen. Hierbei stolperte er natürlich über einen oder gar beide Balken und (dies wird wohl niemanden mehr verwundern) die gefüllten Tassen fielen ins Feuer und löschten es. An dieser Stelle wäre es wohl angebracht, den Mantel des Schweigens über die Szene zu breiten, doch die Geschichte soll trotzdem bis zu ihrem bitteren Ende erzählt werden. Der durchschnittliche Soldat war kein besonders gläubiger Mann und auch wenn er sich in Zeiten drohender Gefahr durchaus ernsthaften, tiefsinnigen Gedanken hingeben konnte, so formten die Entbehrungen und Härten sowie die aufgezwungene Disziplin viele Männer zu hochexplosiven Charakteren, die leicht zu provozieren waren. Zudem waren Kaffee und Zucker zwei Grundnahrungsmittel des Soldaten und selbst die geringfügigste Verschwendung galt, sofern kein sehr guter Grund vorlag, als unentschuldbar. Vernichtete der Jona nun durch seine Sorglosigkeit eine ganze Reihe von Kaffeebechern inklusive deren kostbarem Inhalt, so waren dies die Tropfen, die das Fass seiner Zeltgenossen zum Überlaufen brachten. Deren heiliger Zorn brach nun über ihn herein und hätten sie all diese lautstarken, deftigen Flüche in einer Schlacht wider den Feind gerichtet, so hätten sie wohl mühelos ein ganzes Regiment in die Flucht geschlagen. Die langmütigeren Kameraden, die sich nicht zu Schlägen oder Flüchen hinreißen ließen, sympathisierten zumindest sehr mit jenen, die sich weniger in der Gewalt hatten. Zwei redegewandte Geistliche hätten nicht ausgereicht, um einige der aufgebrachteren Burschen wieder zur Besinnung zu bringen.
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