Hagestolz Holperbein
Hagestolz war nicht mehr jung, doch alt war er noch lange nicht. Das Schicksal hatte ihn verwaist auf Wanderschaft geschickt und so lief er planlos umher und suchte eine Bleibe. Was lag da näher, als sich eine Frau zu suchen, die für ihn sorgte? Doch einen verstaubten Faulpelz, der nichts gelernt hatte und vor sich hin schrumpelte, weil er sich nicht pflegte, wollte keine zum Manne.
Langsam ging ihm das Geld aus, das er von seiner Mutter geerbt hatte, doch in den Läden und Büros der Stadt kam er keinen Schritt weiter. Kaum trat er ein und fragte nach Arbeit, bekamen die Sekretärinnen einen Niesanfall und wenn er nach dem Chef fragte, wurde er mit Ausreden abgewimmelt.
Hagestolz dachte nicht daran, an sich zu zweifeln. Wozu auch? Seine Mutter selig hatte ihn vorbehaltlos geliebt. Warum sollte er sich auf einmal diesen geschniegelten Leuten anpassen? Seine Mutter selig hatte ihn doch auch genommen, wie er war.
Beleidigt wanderte er in die freie Natur. Den Vöglein im Walde war es piepegal, ob seine Schuhe geputzt oder seine Haare gekämmt waren. Hin und wieder wusch er sein Gesicht, doch seine rauen Hände cremte er nie ein, das fand er unmännlich. Er fand Walderdbeeren, die ihm seine Mutter einst gepflückt hatte, doch als er mit seinen schwieligen Fingern danach griff, zerdatschten sie gleich. Sowas auch, konnten die nicht fester sein?
Missmutig streunte er über eine holprige Wiese, unter der eine Kolonie Wühlmäuse hauste. Zu dumm, dass ihm keiner den Weg ebnete. Selbst aufzupassen, wohin er trat, war er nicht gewohnt – und so kam, was kommen musste: Er stolperte und fiel auf die Nase. Autsch! Verflixt und zugenäht, sein Riechorgan tat sowas von weh und ihm ward kurz schummrig.
Weinend betrachtete er seine andren Wunden: Die Hände waren aufgeschürft, die Knie schmerzten und die Stirn war voller Dreck. Hagestolz sah sich Hilfe suchend um, doch sein Leid kümmerte keinen weit und breit. Den Hummeln und Vöglein war es offenbar auch egal, wenn er sich verletzte...
Gekränkt setzte er sich auf einen Erdhügel, doch da pikste ihn eine Distel. Warum wuchs die auch ausgerechnet da, wo er sich hinsetzte? Offenbar war die Natur auch nicht das Gelbe vom Ei. Doch wo sollte er hin? Ohne Geld gab ihm keiner eine Bleibe und ohne Arbeit hatte er keine Aussicht, zu Geld zu kommen.
Traurig sah er an sich herab. Mit seiner zerrissenen Joppe sah er doch erbärmlich aus – warum hatte keiner Erbarmen mit ihm? Jetzt zog auch noch eine dunkle Wolke über den blauen Himmel, pritschelte auf ihn herab und machte ihn ohne Vorwarnung nass. Ob ihm da ein Geist den Kopf waschen wollte? Als der Schauer vorüber war, wischte er sich den restlichen Dreck mit nassem Gras von der Stirn. Dann sah er auf und staunte:
Ein wunderschöner Regenbogen wölbte sich über die Erde, wie ein mächtiges Himmelsportal. Hagestolz war zumute, als zögen ihn überirdische Kräfte dort hinein. Entrückt erhob er sich und sprang in großen Sätzen durch das magisch leuchtende Tor.
In der Anderswelt
Er hielt inne und plötzlich schien er in einer andren Welt zu sein. Wie schön das war! Hagestolz fühlte sich wie neu geboren und dachte, das Schicksal hielte hier irgendwo ein Schlaraffenland für ihn bereit, wo er ohne Mühe' den Genüssen des Lebens frönen konnte. Mit dieser Vorstellung stürmte er blindlings drauflos – doch so weit er auch lief, er fand nichts.
Irgendwann ging Hagestolz die Puste aus. Er blieb stehen, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. Das konnte doch nicht wahr sein! In welcher Öde war er denn hier gelandet? Er schaute zurück, doch der wundersame Regenbogen war weg. Ringsum nur triste Ebene – er hatte keinerlei Orientierung mehr...
Hagestolz kratzte sich am Kopf und dachte nach. Das hatte er noch nie getan, doch nun blieb ihm ja nichts andres übrig. Mutter hatte stets einen Rat für ihn gehabt, wenn er nicht weiter wusste – jetzt war keiner mehr da, der für ihn dachte. Verdammt war das anstrengend! Obendrein knurrte sein Magen, doch keine Seele bat ihn zu Tisch. Und wo sollte er sein Nachtlager aufschlagen? Weit und breit war kein Obdach in Sicht. Ach, wie grausam war doch diese Welt und wie unendlich erschien ihm diese karge Steppe...
Er holte tief Luft, blickte hinauf ins unendliche Himmelsblau und strengte seine kleinen grauen Zellen mächtig an – doch in seinem Hirn herrschte heilloses Wirrwarr. Nur die Sonne schien tröstlich auf ihn herab. Mutlos sank er zu Boden, streckte seine Glieder, schloss die Augen und genoss die Ruhe. Oh, wie angenehm war das doch nach dieser Hetze! Wozu sollte er sich auch abrappeln? Es war weniger beschwerlich, in der Sonne dösend abzuwarten, bis irgend einer käme, ihn zu erlösen.
Unbekümmert glitt Hagestolz ins Reich der Träume...
Da erschien ihm die Glücksfee, lächelte wohlwollend und sagte: „Du hast drei Wunsche frei“:
Das war so ganz nach seinem Geschmack. Hocherfreut dachte er: 'Ich möchte so gern unter Meinesgleichen sein' und malte sich aus, mit einer Horde ebenso zerlumpter Gestalten durch die Welt zu ziehen. Hui, schon fegte ein Windgeist aus dem Füllhorn der Fee, hüllte den Träumer in eine Wolke und entführte ihn an einen fernen Ort voll absonderlicher Gestalten.
Als Hagestolz wieder festen Boden spürte und die Augen öffnete, stand vor ihm eine Baumhexe, die ängstlich aus ihrer Borke lugte.
„Was tust Du denn da in dem Baum?“ fragte er.
„Die Borke beschützt mich“, erwiderte sie.
„Aber Du bist doch darin gefangen“, wunderte sich Hagestolz, „mir würde das nicht gefallen, wenn ich so eingesperrt wäre“ – und sogleich machte er ein paar Purzelbäume, um ihr zu zeigen, wie schön es doch ist, sich frei bewegen zu können.
Die Baumfrau sah ihm neidisch zu, doch als er sie fragend ansah, starrte sie hochmütig über ihn hinweg. Um nichts in der Welt wollte sie zugeben, in ihrer Borke gefangen zu sein. Da er einer Antwort harrte, sagte sie schließlich: „Ich will eben nicht so sein, wie alle anderen. Als Borkentrude bin ich einmalig!“
„Einmalig bin ich auch“, lachte er, drum mag mich keiner...
Sie zuckte zusammen und aus ihren Augen sprach der gleiche Trotz, der ihn einst bewogen hatte, sein verschlamptes Äußeres zu verteidigen. Sahen so die Kameraden aus, die er sich gewünscht hatte? Hagestolz wunderte sich über die seltsame Erfüllung seines Wunsches. So verkorkst, wie diese Baumtrude, war er doch noch lange nicht. Schließlich steckte er ja in keinem selbst gewählten Gefängnis. Er wandte sich beleidigt ab und schaute sich um. Auf der andern Seite lag ein Sumpf, in dem sich etwas bewegte.
Hagestolz war neugierig, was das sei, und rief: „Hallo?“
Langsam drehte sich das Wesen um und glotzte ihn sonderbar an. Es war ein Echsenmensch, der dort im Schlamm lag und ziemlich besoffen dreinschaute. Ein Stück weiter hinten blubberte es aus dem Boden und auf dem Morast lag ein rötlicher Glanz. Rosige Schwaden zogen darüber hinweg und rochen nach modrigem Wein. „Ist das eine Weinquelle?“ fragte Hagestolz.
„Nein“, ächzte das seltsame Geschöpf, „das ist eine Heilquelle. Die Trauben hängen da oben“ und damit deutete es auf einen Berg aus rotem Gestein, der hinter dem Sumpf aufragte. „Was dort an Weinbeeren abfällt, landet hier im Sumpf und vergärt im Wasser. So lebe ich in einem Wein-Sumpf und bin ganz ohne mein Zutun ständig beduselt.
Hagestolz blickte hinauf: Auf dem Gipfel stand eine Burg, deren Mauer Weinreben bekränzten. Auch seine Mutter hatte einst einen Rebstock gehabt. Daher wusste er, dass nur verschrumpelte und angeschimmelte Beeren vom Wind verweht wurden. Gesund war dieser Abfall sicherlich nicht. „Hast Du schon mal versucht, da hinauf zu klettern, um die guten Trauben zu ernten?“ fragte er.
„Oje-oje“, jammerte der Schuppenmann, „da komm ich doch gar nicht hinauf! Der Berg ist doch viel zu hoch, das schaffe ich nie!“
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