Die meisten nennen mich aber einfach nur Das Sandkorn.
Ich denke, fürs Erste habe ich genug darüber verloren, wer oder was ich bin, selbst wenn es nichts über mich aussagt, und es wird auch noch eine ganze Weile dauern, bis ich mir darüber im Klaren bin, ob ich innerhalb der Pläne der mächtigsten unserer Wesen eine bestimmte Rolle spiele, von deren wahrer Natur ich selbst heute, acht Jahre nach meiner eigentlichen „Geburt“, nur einen unmaßgeblichen Teil kenne.
Ich bin im Grunde noch gar nicht da. Denn zu jener Zeit, da alles begann, wusste noch nicht einmal ich, dass ich im Begriff war, in die tückischen Fahrwasser der beiden Urmächte zu geraten, die unsere Welt zum Leben erweckten, oder dass ich irgendwann einmal zum Narren der herrschenden Fraktionen Amaleas werden würde.
Alles, was ich verstand, war, dass ich einen Befehl zu befolgen hatte. Und die Verweigerung eines Befehls ist für jemanden wie mich nicht nur tödlich, sondern ein Ding der Unmöglichkeit. Zumindest verhielt es sich damals so, und auch noch Jahre später. Genaugenommen bin ich erst jetzt dabei, einen Befehl zu missachten und einen Weg zu beschreiten, der weit von alldem wegführt, was ich irgendwann einmal war.
Doch das Jetzt, von dem ich spreche, betrifft die Zeit nach der einzigartigen Begegnung, die sich am Ende des Anfangs zugetragen hat, am Ende jener Vorgeschichte, die ich hier zu klären gedenke.
Ich werde mich heute damit begnügen müssen, zu verstehen, wie alles begann und wie es zu jener Begegnung kommen konnte, die mich, meine Begleiter, ja, die ganze verdammte Welt in ein neues, ein seltsames und verstörendes Licht rückte.
Manches von dem, das mir auf meinem Weg begegnete, nahm ich für bare Münze, anderes kam mir zu Recht abwegig vor, wieder anderes erweckte meinen Zorn oder kostete mich nur ein müdes Lächeln. Aber eines habe ich am Ende begriffen:
Ich bin mehr, als ich sein sollte.
Der Tod ist dein Begleiter
Darcean Dahoccu stand aufrecht in der Mitte seiner Kajüte, zu seinem Bedauern eine kleine Kammer ohne jeden Ausblick, wie es bei allen Kabinen, abgesehen von der des Kapitäns der Fall war. Doch mittlerweile hatte er sich an das schummrige Licht der Öllampe, an die karge Einrichtung und die beengenden Räumlichkeiten gewöhnt. Nicht gewöhnt hatte er sich an die Abwesenheit seiner kleinen Schwester. Sein Leben lang war er für sie da gewesen, war für ihre Sicherheit, ihre Erziehung, ihre Bildung verantwortlich gewesen – seit dem Tod ihrer Eltern, als das Chaos über Moravod hereingebrochen war und lange bevor sie in den neu gegründeten Elfenstaat Albion gereist waren. Doch als er schließlich von Albion nach Aschran aufbrach, um sich dieser Mission anzuschließen, hatte er Sedhorad zurücklassen müssen. Der Weltgeist hatte ihre beiden Leben voneinander getrennt, und Darcean fügte sich in diese Tatsache, auch wenn es ihm schwer fiel.
Um seinen Geist zu glätten, verlagerte er das Gewicht von einem aufs andere Bein, ließ seinen Blick einmal durch die Kajüte wandern und nahm seine privaten vier Wände in sich auf – die schwere Truhe mit den feinen Triskele-Schnitzereien auf dem Deckel, auf dem ein paar seiner zusammengefalteten Tuniken und Hemden neben einem Stück Seife, einem Handtuch und seinem Nachthemd lagen; den Tisch mit seiner weißen Feder in hölzerner Halterung, dem von Elfenhand geschmiedeten Dolch in einfacher Lederscheide und dem kleinen Gestell mit Kerze und Wasserkanne darauf, den Stab aus Eibenholz in der Ecke neben dem Bett …
Darcean schloss seine Augen. Wie von selbst glitten seine Arme zur Seite, hoben sich seine Handinnenflächen nach oben, berührten sich Mittelfinger und Daumen, zog sich ein Bein entlang des anderen bis auf die Höhe seines Knies. Jetzt hatte er die Position erreicht, die ihm dabei helfen würde, das innere Gleichgewicht zu finden.
Im Tai Ji Quaen übertrug sich der innere Kampf um die Ausgewogenheit auf das Äußere und der Körper reagierte, indem er dieses Gleichgewicht aufnahm und hielt. Der Körper spiegelte die innere Befindlichkeit wider und umgekehrt. Das war der Kern der Lehre des Tai Ji Quaen – eine Lehre, die Darcean nur bekannt war, weil einst ein entfernter druidischer Vorfahre mit einem Mönch aus dem Kibaner-Reich eng befreundet gewesen war und dessen Weisheiten nach seinen regelmäßigen Besuchen mit nach Moravod gebracht hatte.
Man erzählte sich, dass der Druide zusammen mit dem Mönch während eines gemeinsamen Spaziergangs einen großen Wasservogel beobachtet hatte, der in einen Kampf mit einer Giftschlange verwickelt gewesen war. Die Schlange hatte versucht, ihrem Gegner mit Hilfe ihrer naturgegebenen Schnelligkeit die Giftzähne in seine Flanke zu schlagen, wobei sie seinen hackenden Schnabelangriffen blitzartig auswich. Dabei hatte sie sich stets nur so weit bewegt, wie unbedingt erforderlich, sodass sie auf ihren kurzen Wegen Energie freigesetzt hatte, die sie sofort für einen neuerlichen Angriff nutzen konnte. Der Wasservogel wiederum hatte auf seine Flügel gesetzt, um das Gleichgewicht zu halten und auf diese Weise den Angriffen seines Gegners auszuweichen. Dabei hatte er dem gefährlichen Schlangenkopf stets seine Brust und seinen Kopf zugewandt und es damit vermieden, sich im Kampf die Blöße zu geben. Die beiden Gegner waren ebenbürtig geblieben.
Nach dieser Beobachtung entwickelte der Mönch anhand der beiden ungleichen Tiere und deren Verhalten eine äußerst effiziente Kampfkunst, die darauf abzielte, auch ohne Waffen siegreich zu sein: Qido. Indes schrieb der elfische Druide am Vorbild des Wasservogels eine Abhandlung über die Möglichkeiten, durch bestimmte Bewegungen des Körpers die Suche nach dem inneren Gleichgewicht zu fördern und sich so mit der Natur und dem Weltgeist in Einklang zu bringen: Tai Ji.
Darcean wusste nicht viel über die Kampfkunst, die der Mönch aus seinen Studien entwickelt hatte. Aber das nur wenigen Elfen bekannte Buch des Druiden hatte er bereits in jungen Jahren gelesen. Seither wandte er die Techniken des Tai Ji an, wann immer er das Gefühl hatte, es brächte ihn etwas aus dem Takt.
Seitdem er das Kommandoschiff betreten hatte, erschien es ihm, als hätte der Weltgeist ein erhebliches Problem damit, die Kräfte in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Darceans einziger Trost war in diesen Tagen Siralen. Er konnte sich wunderbar mit ihr unterhalten und hielt große Stücke auf sie.
Darcean setzte sich auf den Hocker und füllte einen seiner gewachsten Holzbecher mit der Kräutermischung, die er aus Albion mitgebracht hatte. Dann goss er heißes Wasser darüber und ließ den Tee eine Weile ziehen. Er war gerade so weit, die Ruhe in der engen Kajüte zu würdigen, da klopfte es nicht gerade dezent an seiner Tür.
Darcean seufzte leise, stellte den Becher zurück auf den Tisch, stand auf und öffnete die Tür.
Heolilejen. Im Korridor stand dieser grobschlächtige Mensch namens Chara Pasiphae-Opoulos samt seiner beiden Leibwachen.
„Darf ich eintreten?“, fragte sie und Darcean unterdrückte ein weiteres Seufzen. „Wenn es Euch ein dringendes Bedürfnis ist.“ Er zog die Tür auf. „Aber diese beiden Archetypen bleiben, wo sie sind.“
Irgendwie schaffte es die Kommandantin, ihren Geleitschutz dazu zu bewegen, sich verdrießlichen Blicks vor der Tür zu positionieren. Nachdem selbige geschlossen war, setzte Darcean sich erneut und bot seinem Gast den noch freien Hocker an. Während Pasiphae-Opoulos sich langsam durch die Kajüte bewegte, studierte er ihr unvergleichliches Gesicht.
Die Geschichten, die er in Tamang gehört hatte, waren wahr. Chara war selbst für den Geschmack des unsterblichen Volkes von geradezu inspirierender Schönheit – wenn man denn von der Tatsache absah, dass der Stoff ihres Geistes von so grober Faser war wie einfache Jute und die Art, wie sie sich gebar, jeglicher Grazie spottete. Er wollte gerade zur Frage nach dem Grund ihres Besuches anheben, da stand sie plötzlich hinter ihm. Und noch bevor ihm klar wurde, was hier gespielt wurde, fühlte er kalten Stahl an seinem Hals.
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