„Du kannst … das nicht verstehen, Chara. Es geht nicht darum, dass ich Angst vor der Folter habe. Schon, aber das ist es nicht …“
„Was dann?“ Irgendwie wusste sie es, irgendwie auch wieder nicht. Die Frage war, warum sie es ganz genau wissen wollte.
„Ich kann es dir nicht erklären. Vielleicht findest du es irgendwann selbst heraus. Wünschen tu ich es dir nicht.“ Er schloss die Augen, umfasste den Dolch fester.
Chara spähte zu dem Drachenboot, das jetzt nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in der Ferne war. Hätte es Stowokor geschafft, mit dem Boot zu fliehen, würden sie und die Hatschmaschin jetzt hinter ihm her sein. Im Zweifelsfalle würden sie ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, töten. Doch das hier war etwas anderes. Hier stand der Verdächtige und plante, sich das Messer selbst in den Leib zu stoßen. Seltsamerweise glaubte sie ihm, dass es nicht die Angst vor der peinlichen Befragung war. Ginge es hier um Angst, würde sie nicht zögern. Sie hätte auch kein Problem damit, ihn hier und jetzt umzubringen. Der Angst begegnete sie mit Gnadenlosigkeit.
Doch etwas in ihr hatte sich auf Weigerung eingestellt. Sie weigerte sich, Lucretias Befehl nachzukommen. Sie weigerte sich, Stowokor dabei zuzusehen, wie er sich den Gnadenstoß verpasste. Dabei wollte sie nichts so sehr, wie diese Situation beenden. Doch da war dieser Knoten in ihrem Bauch. Und da war der Gedanke, dass dieser Moment einer der lehrreichsten in ihrem erbärmlichen kleinen Leben sein könnte. Plötzlich fühlte sie eine tiefe Abneigung gegen Lucretia.
„Chara?“, vernahm sie Stowokors gebrochene Stimme und sie sah zurück in seine Augen. Er schwieg und hielt ihr seine freie Hand entgegen. Da war kein Zorn in seinem Blick. Nur tiefe Trauer, ein Schmerz, der ins Bodenlose zu gehen schien. Ein Schmerz, den sie nie fühlen wollte.
Sie griff nach seiner Hand und blickte zurück auf das Meer. Eine Welle schlug die Bordwand hoch und zog sich glucksend wieder zurück. Dann ein Ruck, und Stowokors Finger schlossen sich schmerzhaft um ihre. Chara ließ es zu, dass er sich an ihr festhielt. Sie ließ es zu, dass sie ihn festhielt. Als seine Hand aus ihrer glitt, als er den Halt verlor und Richtung Boden sackte, packte sie seine Unterarme und ging mit ihm in die Knie. Ihre Blicke kreuzten sich. Ein letztes Zwinkern. Dann löste sich die verkrampfte Hand von dem Dolch in seiner Brust. Stowokors Augen wurden glasig, die Finger um ihre Arme erstarrten.
Sachte ließ sie seinen Körper auf die Planken gleiten. Sie zog den Dolch aus seiner Brust und drehte die Spitze der Klinge nach unten. Stowokors Blut floss in einem Rinnsal durch die Hohlkehle ab und tropfte auf die Planken. Einen Augenblick blieb sie hocken und beobachtete, wie sich die dunkelrote Lache in das spröde Holz soff.
Als sie aufstand, herrschte eine fast greifbare Stille über dem Deck der Meerjungfrau. Chara drehte sich zum Poopdeck um, hob langsam die blutige Klinge über den Kopf und rief:
„Deine Leiche, L’Incarto!“
Bei nächtlichem Glas, da halte ich Wacht
Die Besprechung, die am Tag nach Olschewskis Ableben gehalten wurde, verlief so, wie man es hätte erwarten können. Lucretia L’Incarto saß steif wie die Präparation einer Leiche an der Tafel und wunderte sich darüber, warum ihre Haut an Geschmeidigkeit verloren hatte. Von ihrer eigenen Starre in tiefe Besorgnis gestürzt, versank sie mehr und mehr in sich selbst. Sie ließ sich von ihren Gedanken fortreißen. Die Gefühle hatten mit einem Mal an Attraktivität verloren, fühlten sich an wie abgestorben. Was beinahe ein Hohn war. Also denken, nicht fühlen. Doch der Gedanke, oder besser, die Frage, die unablässig wiederkehrte, war keine willkommene:
War es tatsächlich geschehen? War der einzige, der sie je erreicht, der sie je wirklich geliebt hatte, von ihr gegangen?
Jedes Mal, da Lucretia sich diese Frage stellte, bestand die Antwort aus einem lauten, herzlosen Ja. Und jedes Mal, da sie dieses Ja als gegeben akzeptierte, verabschiedete sie sich mehr von dieser Welt.
Ja, Stowokor ist tot. Und nein, das war so nicht geplant. Und überhaupt, das konnte doch unmöglich ihre Welt sein. Richtig, sie hatte sich diese ja auch nicht ausgesucht. Oder doch? Nein, nein. Sie war nur ihrer Wege gegangen. Vielleicht war sie kurz unaufmerksam gewesen, war falsch abgebogen und direkt in Al’Jebals Welt geraten. Genau. Das war Al’Jebals Welt, nicht ihre. Al’Jebals und Charas und Siralens und Ahrsa Kasais. Apropos Kasai … Er beschwerte sich wieder einmal. Zu Recht, wie man meinen mochte. Man höre nur hin! Die Beweiskraft war ja geradezu erschlagend!
„Frau Pasiphae-Opoulos, die Entscheidung lag ohne jeden Zweifel bei Euch, nicht wahr? Ihr wart dort an der Reling. Ihr wart die Einzige, die genauestens mitverfolgen konnte, was der Verdächtige dort tat und sagte. Ihr wusstet, dass er sich selbst das Leben nehmen wollte, und Ihr hättet dies verhindern können. Stattdessen habt Ihr ihm dabei zugesehen, wie er sich eine vergiftete Klinge ins Herz stieß. Wodurch es mir ein Ding der Unmöglichkeit war, seinen entmaterialisierten Geist zu befragen, um mit Hilfe dieser allerkompliziertesten magischen Methode die Wahrheit über ihn ans Licht zu bringen.“
Lucretia nickte zustimmend, stierte dabei aber weiterhin schweigend auf die Tischplatte. Hochkompliziert, dieser Spruch, in der Tat. Die Geistbefragung beherrschten nur die wenigsten Zauberkundigen. Und wäre Stowokor nicht so unvernünftig gewesen … hätte er sich nicht in eine vergiftete Klinge geworfen, hätte Ahrsa noch eine Gelegenheit gehabt, seine Unschuld zu beweisen. Es war ein sehr seltenes Gift, das Stowokor zum Einsatz gebracht hatte. Es zersetzte rapide die Organe, einschließlich Herz und Gehirn. Stowokors Geist hatte nichts mehr gehabt, woran er sich festhalten konnte. Und schwuppdiwupp, war er dahin.
„Ich dachte, die Magie, mit Hilfe derer man den Geist eines Verstorbenen befragt, schließt nicht aus, dass besagter Verstorbener lügt“, hielt Chara dagegen. „Was hätte die Befragung dann gebracht, Kasai? Für den Fall, dass Stowokor tatsächlich ein Verräter war, hätte sein Geist wohl kaum eingelenkt und den Verrat gestanden.“
Lucretia nickte stoisch. Das war ein berechtigter Einwand.
„Völlig korrekt, Frau Pasiphae-Opoulos. Aber es wäre doch möglich, dass Stowokor Olschewski kein Verräter war, oder wenn doch, dass er nach seinem Ableben Reue gezeigt hätte, nicht wahr? Oder wollt Ihr diese Möglichkeit etwa ausschließen?“
„Nein.“ Charas Blick zuckte zu ihr und Lucretia spannte sich an. Schau mich bloß nicht so an, Assassinin. Das Messer lag in deiner Hand. Am Ende. Am Ende hattest du sein Blut an den Fingern, nicht ich. Du hättest ihn aufhalten können, oder nicht? Die Klinge, die blutige, du hast sie mir einfach vor die Nase gehalten, als wäre ich seine Mörderin. Diese vergiftete Klinge … Oh, das war ja beinahe poetisch. Vergiftete Klinge … mein Gift, dein Gift, unser Gift.
„Wie dem auch sei“, beendete Ahrsa das unleidige Thema. „Wir wissen nicht, ob Stowokor Olschewski ein Verräter war. Wir wissen nichts. Infolgedessen ist es erneut an Euch und der Internen Sicherheit, den Fall aufzuklären. Ich hoffe sehr, dass Ihr in absehbarer Zukunft Ergebnisse vorweisen könnt, denn mir und meinen Kollegen sind im Augenblick die Hände gebunden. Ihr müsst daher ohne unsere Unterstützung zu Rande kommen.“
Wohl gesprochen, geschätzter Magus. Und? Was sagst du jetzt, Chara?
Sie sagte gar nichts. Stattdessen rückten Stühle und es wurde unangenehm laut in der Messe. Unwillkürlich hielt sich Lucretia die Ohren zu. Sie wollte nur noch allein sein. Allein, allein, allein.
Schwarz wie der Mantel des Todes hing die Nacht über der Meerjungfrau und nur die kleinen Lichtpunkte der Feuerschalen zuckten über die Besatzung, die sich zum Gebet am Hauptdeck versammelt hatte. Während er vom Admiral der Allianzflotte nach dem Erklimmen des Fallreeps in Empfang genommen wurde, verschaffte er sich einen Überblick und stellte fest, dass es zu viele Feuer waren, die das Deck erhellten. Und wenn er bei einer Totenfeier etwas nicht dulden konnte, dann war es zu viel der Hitze, die dem Feuernehmer gehörte. Das Feuer verbrannte die Todeskraft, die in jedem weste und von welcher die sterbenden Seelen abhängig waren, wollten sie zu Monoch gehen. Die Hitze ließ den Körper verfaulen und trieb die Seele zu früh aus dem Leib hinaus. Noch bevor die Kraft des Todes zur Entfaltung kommen konnte, entriss sie sie dem viel zu schnell verfallenden Körper und trieb sie in die Arme Uldins.
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