Die Sachsen nahmen auf einer Anhöhe, die nach Westen hin von einer sumpfigen Niederung begrenzt wurde, Aufstellung. Die Britannier machten sich hinter ihnen daran, Gräber auszuheben. Mehrere ihrer Priester – Ordulf erkannte sie inzwischen an den in der Stirn geschorenen Haaren – sprachen ihre Zauberformeln über den Toten und malten Kreuzzeichen in die Luft. Vermutlich wollten sie die Verstorbenen in ihre Gräber bannen, damit sie nicht als Untote ihr Unwesen trieben. Schaudernd stellte sich Ordulf vor, wie das ganze Heer ohne Köpfe in der Unterwelt leben mochte. Um sich wieder zu wärmen, drehte er sich den wenigen Sonnenstrahlen zu, die die trübe Wolkendecke durchbrachen.
„Ich erzähl dir mal ein Rätsel“, wandte er sich schließlich Thiadmar zu. „Nach dem gestrigen Tage solltest du es leicht erraten:
Ich bin ein einsames Ding, |
voll eiserner Wunden |
Geschlagen von Klingen, |
geschunden mit den Spuren von Kämpfen |
Müde der Schwerter, |
oft sehe ich Schlachten |
Harte Fehden, |
keinen Frieden habe ich. |
Keine Hilfe wird mir erscheinen, |
in der Hitze der Schlacht. |
Bis von der Erde |
Ich elend vergehe. |
Die gehämmerten Schwerter |
sie hauen und schlagen |
scharf und hart-schneidig |
der Schmiedehammer-Werk. |
Nicht verweilend in Städten |
muss ich folgen dem Streit |
wo sich Feinde treffen. |
Niemals fand ich |
in den Stätten |
wo Männer sich sammeln |
einen der mit Kräutern |
heilt meinen Kummer. |
Doch die Wunden der Schwerter durch tödliche Hiebe |
werden stets schwerer bei Tag und bei Nacht. |
Na, was bin ich?“
Ordulf blickte gespannt, doch Thiadmar grinste säuerlich. „Den Hinweis auf unser gestriges Abenteuer hättest du dir sparen können. Ich wäre auch so drauf gekommen.“
„Und was meinst du, was ich bin?“, drängte Ordulf. Das Rätsel war eines seiner besten.
„Ein Schild natürlich“, entgegnete Thiadmar und Ordulf musste enttäuscht gestehen, dass der junge Haduloher richtig geraten hatte.
Unter diesem und anderen Zeitvertreiben plätscherte der Vormittag langsam dahin. Ein jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Erst am frühen Nachmittag wurde Ordulf plötzlich durch den dumpfen Klang schlagender Hufe aus seiner Lethargie gerissen. Er blickte auf und erkannte einen Reiter, der sich ihnen von Westen her rasch näherte. Bald zügelte er sein Pferd. Die Niederung zwischen ihnen war zu sumpfig, um sie auf dem Pferderücken zu überwinden.
„Es ist Wedigo“, kommentierte Halvor, der auch heute wieder zu Ordulfs Gruppe gehörte. Der verdammte Ebbingemanne muss ungeheuer scharfe Augen haben, dachte Ordulf. Oder vielmehr ein ungeheuer scharfes Auge, korrigierte er sich und lächelte grimmig.
Erst eine ganze Weile später konnte er den Reiter ebenfalls erkennen. Er strebte an Ordulfs Gruppe vorbei, direkt dem Lager zu.
Kurze Zeit später kam Hengist selbst auf seinem britannischen Pferdchen zu ihnen hinausgetrabt. „Prinz Koloman will uns die Ehre eines Besuches geben“, berichtete er.
„Kolomans Heer soll fast tausend Mann zählen“, bemerkte Ordulf. Seine Männer wechselten unruhige Blicke.
Ungerührt fuhr Hengist fort: „Vortigern will, dass wir hier auf der Hügelkette warten, bis er seine Männer hinter uns zur Schlacht formiert hat. Wir Sachsen stehen wieder ganz vorn. Du, Ordulf, wirst deine Leute hier und die nächste Gruppe dort rechts anführen. Ihr bildet einen Schildwall und haltet diesen Hügel, ganz egal, was auch passiert. Klar?“
„Und wenn die Pikten nicht angreifen wollen?“, fragte Ordulf. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie direkt nach dem Eilmarsch, der sie bis hier gebracht hatte, durch den Sumpf und den Hügel hinauf, einen Angriff wagen würden.
Hengist sah ihm fest in die Augen. „Keine eigenwilligen Aktionen. Vortigern will abwarten. Wenn die Pikten gegen alle Vernunft Vortigerns Angebot zur Schlacht auf diesem Boden annehmen, falle ich ihnen mit den Reitern in die Flanke. Du bleibst mit deinen Männern hier oben, bis ich euch etwas anderes befehle.“ Als Ordulf nickte, fuhr er fort. „Aber du hast recht. Das werden sie nicht tun, zumindest nicht mehr heute. Es ist ohnehin schon erstaunlich, wie sie so rasch hier sein konnten. Aber egal, du bleibst mit deinen Leuten, wo ihr seid, nämlich auf diesem Hügel.“
Das war nun wirklich die längste Rede, die Ordulf jemals von Hengists Lippen vernommen hatte. Er würde also auf dem Hügel bleiben. Komme, was wolle. Schade nur, dass er seinen eisenbeschlagenen Schild und die beiden Wurflanzen nicht mehr holen konnte.
„Wir bilden einen doppelten Schildwall!“, rief er seinen Leuten zu. Das Befehlen fühlte sich ungewohnt an und er hoffte inständig, dass es niemandem auffiel. Zu seiner Erleichterung gehorchten die Männer aber sofort. Die strengen Übungen in Beufleet zahlten sich aus. Ordulf trat einen Schritt vor und ließ seinen Blick über die Aufstellung schweifen. Seine etwa dreißig Männer standen ganz am rechten Flügel. Von hier konnte er gut beobachten, wie die Britannier ihre Schaufeln und Hacken davonwarfen und zu den Waffen eilten. Einige Zeit später tauchten die Schnellsten von ihnen wieder auf. Sie nahmen links neben den Sachsen Aufstellung. Ordulf beobachtete gespannt, wie es immer mehr wurden.
Vortigerns Haustruppen, die Catuvellaunen, waren nicht in Besatzungen oder Sippen, sondern in Centurien gegliedert, wie sie es nannten. Sie bildeten den Kern des britannischen Heeres. Nun rückten sie dicht zusammen und schlossen ihre Reihen unter den jeweiligen Fahnen. Die übrigen Britannier ließen dagegen keine klare Ordnung erkennen. Aber auch sie präsentierten stolz eine Reihe bunter Wimpel, auf denen Drachen, Kreuze und Adler prangten. Vor jeder der catuvellaunischen Centurien stand ein besonders kräftiger Krieger. Offensichtlich die Anführer von Vortigerns Streitmacht.
Neidvoll ruhte Ordulfs Blick auf ihren bunten Helmbüschen. Er war nun auch Unterführer einer eigenen Abteilung, aber seine einfache Kleidung und der schmucklose Holzschild konnten sich nicht einmal mit den polierten Brünnen oder den breiten Wangenklappen der gemeinen Catuvellaunen messen. Immer, wenn sich ein schwacher Sonnenstrahl durch die Wolken kämpfte, blitzten die britannischen Waffen nur so zu ihm herüber. Ein prächtiger Anblick. Doch trotz seiner minderwertigen Ausrüstung fühlte Ordulf Zuversicht und Stolz, nun auch ein Anführer dieses Heeres zu sein.
Mühsam riss er sich von dem erhabenen Anblick los und richtete seinen Blick auf die ihm anvertrauten Männer. Sie standen ruhig auf ihren Plätzen im Schildwall und warteten. Der rechte Rand eines jeden Schildes überlappte den linken seines Nachbarn. Nur sein eigener Platz vorne in der Mitte der Aufstellung war noch frei. Einen Augenblick verweilte Ordulfs Blick auf Halvor. Konnte er ihm trauen?
Einige Männer zeigten plötzlich hinter ihm ins Tal.
„Sie kommen!“, rief Thiadmar.
Ordulf fuhr herum. Tatsächlich, da bewegte sich etwas. Und dann waren sie auf einmal klar zu erkennen. Diesmal war es anders als in dem Gefecht bei Lindum oder am Vortag am Flussufer. Die Sachsen standen hoch über den Pikten auf dem Hügel und hatten ausreichend Zeit, ihren Gegner zu beobachten – und zu zählen. Die Pikten waren bei weitem in der Überzahl, doch der Geländevorteil lag eindeutig auf Seite der Sachsen. Die Feinde müssten erst einmal die sumpfige Niederung passieren, bis an die Knöchel im Morast, und dann wäre auch noch der Hang zu erstürmen, bevor sie als erstes auf Ordulfs dünnen Schildwall träfen. Nur ein völlig kopfloser Führer würde unter diesen Umständen eine Schlacht beginnen. Doch kopflos war ein Wort, über das Ordulf im Zusammenhang mit den Pikten lieber nicht nachdenken mochte.
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