Eine schlaue Idee, dachte Ordulf. Wie oft wurden nicht die Ruderer beim Angriff Ziel von Pfeil und Speer?
Auch der Steven hatte eine seltsame Form. Er schwang sich nicht in einer eleganten Kurve aus dem Wasser, wie bei der Heritog oder der Heldir, sondern bildete dicht über der Wasserlinie eine Spitze aus. Ein Rammsporn. Ein einzelner Balken ragte darüber nach oben und lief in einem stilisierten Drachenkopf aus. So ein Schiff hatte Ordulf noch nie gesehen. Es wirkte wie eine Schlange auf dem Wasser und ihr Biss konnte für andere Schiffe vermutlich ebenso todbringend sein, wie der einer Kreuzotter für Kinder und Fohlen.
Die fremden Riemen senkten sich ins Wasser. Das Schiff stoppte auf und ein Mann rief in der seltsam melodischen Sprache der Britannier zu ihnen hinüber. Ceretic übersetzte so laut, dass auch Ordulf alles verstehen konnte.
„Das ist Vortimer, der Sohn des Hochkönigs. Er wird uns nach Londinium und dann weiter in den Norden gegen die Pikten führen.“
Nun kniff auch Hengist die Augen zusammen, allerdings wegen der Sonne, die bereits ihren Zenit überschritten hatte, und nicht weil er so stumpfe Augen wie Ordulf gehabt hätte. Er hob die Hand zum Gruß. „Sag ihm, dass Hengist Witgissunu, seinen Gruß erwidert“, forderte er Ceretic auf und rief seiner Besatzung dann zu: „Wir wollen den Prinzen gebührend grüßen. Hoch Vortimer!“
Dreimal schickten die Sachsen von ihren Ruderbänken ein donnerndes „Hoch Vortimer“ zu dem fremden Schiff hinüber.
Am Abend, sie hatten die Schiffe beim Einsetzen der Ebbe ans schlammige Ufer gezogen, denn gegen den Strom gab es kaum ein Vorankommen, bemerkte Ordulf ein unheimliches Glimmen am nördlichen Horizont.
„Die Lichter der großen Stadt“, erklärte Tavish auf mehrfache Nachfrage. Er tat sich immer noch schwer mit dem Sächsischen, Ordulf verstand ihn nur mit Mühe.
Ein kräftiges Lachen lenkte Ordulfs Aufmerksamkeit von dem jungen Britannier und den Lichtern der Stadt ab. Vortimers britannische Besatzung lagerte abseits der Sachsen am Ufer des dunkel daliegenden Stromes. Fast wurden sie von den hängenden Weiden und Erlen verdeckt.
Ordulf schlug gedankenverloren nach einer Mücke. Sein Blick glitt weiter am stillen Ufer entlang. Nur der Prinz selbst saß zusammen mit Hengist, Horsa, Willerich und Ceretic in der Runde der angeworbenen Sachsen. Vortimer schien nicht im Mindesten besorgt. Er erzählte eine Geschichte, die Ceretic für die Zuhörer von jenseits des Meeres übersetzte. Hengist schien sich zu amüsieren wie schon lange nicht mehr. Sein helles Lachen durchschnitt die Stille der Nacht. Hatte er ihn überhaupt einmal so ausgelassen erlebt?, wunderte Ordulf sich.
Am darauffolgenden Tage kamen sie nach Londinium. Die Stadt schien noch bedeutend größer als Durovernum zu sein. Die Mauer, mehr als drei Mann hoch, umschloss eine unzählbare Menge steinerner Gebäude. Doch selbst Ordulf fiel auf, dass Londinium einmal für mehr Menschen gebaut worden war, als nun darin wohnten. Große Flächen im Inneren der grauen Mauern lagen brach oder waren mit den Trümmern verfallener Häuser bedeckt.
Am meisten beeindruckt hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft der Hafen. Dort lagen insgesamt drei der schlanken Naves lusoriae . So hatte Ceretic Vortimers Schiff bezeichnet. Nach ihrer Größe und dem niedrigen Freibord zu urteilen, waren sie nur für den Einsatz auf dem Fluss – der Thamesa, wie er inzwischen erfahren hatte – und allenfalls in Küstennähe gebaut. Doch trotz ihrer schlanken Linien waren nicht sie es, die Ordulfs Blick gefesselt hatten. Nicht weit von ihnen lagen die verrottenden Gerippe weiterer Schiffe im Schlick. Unter ihnen eines, welches Ceretic als Liburne bezeichnet hatte. Es musste einmal mehr als doppelt so groß wie die stattliche Heritog gewesen sein.
Und noch etwas am Hafen hatte Ordulf den Atem stocken lassen: die Brücke. Nicht ein einfacher Holzsteg, wie er ihn aus Sachsen kannte. Nein, die Brücke ruhte auf mehreren Pfeilern inmitten des Flusses. Die Wassermassen schossen und tosten an den Pfeilern vorbei und hoch darüber spannten sich schier endlos lange steinerne Bögen, die eine dieser geraden Römerstraßen quer über den Strom trugen. Seitdem hatten sie mehrere Flüsse auf ähnlichen, wenn auch kleineren Brücken überquert. Es klang hohl, wenn die Hufe der Pferde auf die steinernen Straßen schlugen, doch sie scheuten nicht ein einziges Mal und auch Ordulf selbst nahm nicht das geringste Schwanken wahr.
Fünf Tage nachdem sie Londinium durchquert hatten, befanden sie sich wieder auf einer der schier endlosen, geraden Römerstraßen. Die Sonne der letzten Tage hatte sich verzogen. Der Wind stand ihnen entgegen und Regen peitschte Ordulf ins Gesicht. Er fluchte leise unter dem Gewicht seiner Ausrüstung. Hengist und einige ausgesuchte Sachsen waren in Londinium mit Pferden versorgt worden. Für den Rest von ihnen hatte Vortigern lediglich drei Ochsenkarren bereitstellen lassen, viel zu wenig, um das gesamte Gepäck der hundertzweiundfünfzig Männer aufzunehmen. Auch Ceretic und Vortimer mitsamt seiner Eskorte waren selbstverständlich beritten. Daher sah Ordulf von ihnen nun auch nichts mehr. Sie hatten sich, sobald die ersten Tropfen vom Himmel fielen, nach Norden abgesetzt und würden vermutlich in einer trockenen Scheune auf sie warten. So hatte sich Ordulf den Kampf gegen die Pikten nicht vorgestellt.
Wenigstens in Bezug auf die Nahrung hatte der Hochkönig Vortigern nicht zu viel versprochen. Jeden Abend, wenn die Sachsen hungrig und müde in den Scheunen eines Dorfes lagerten, sorgte Vortimer für ausreichend Fleisch, Brot, Bier und Feuerholz.
„Ob wir bald auf diese verdammten Pikten treffen?“, fragte Ypwine Gerolf, der neben Thiadmar und Ordulf am Feuer saß, am Abend dieses Tages.
Gerolf zerrte gerade mit beiden Händen an einem Stück Fleisch, in dem er sich festgebissen hatte. Schließlich ließ er von dem zähen Stück Schaf ab und wischte sich das Fett aus dem Bart. „Entweder Vortigerns Truppen haben sie schon ohne unsere Hilfe vertrieben oder sie kommen uns bald entgegen“, vermutete er und nahm einen neuen Anlauf, der widerspenstigen Keule beizukommen.
Ordulf hörte schweigend zu, doch am Abend reinigte er sorgfältig seinen Sax und prüfte die Schärfe der Klinge. Wie würde er sich wohl in seiner ersten Schlacht schlagen?
Früh am Morgen ging es weiter, die Kolonne der Sachsen zog sich über eine lange Strecke Weges hin, doch immerhin schien heute endlich die Sonne. Gegen Mittag geriet der Zug vorne plötzlich ins Stocken. Ordulf kniff die Augen zusammen, konnte den Grund aber nicht erkennen.
„Dort kommen zwei Reiter auf uns zu“, rief schließlich jemand weiter vorn in der Kolonne. Dann entdeckte Ordulf sie auch.
Zwei völlig verdreckte Reiter auf kleinen britannischen Pferdchen, denen der Schaum vor dem Maul stand.
„Die müssen wichtige Nachrichten überbringen, wenn sie sich so beeilen“, mutmaßte Gerolf.
Die sächsische Kolonne war inzwischen wieder dicht aufgeschlossen und Ordulf sah gespannt zwischen Hengist und den sich nähernden Britanniern hin und her. Die Reiter hielten direkt auf Vortimer zu und als sie ihn erreichten, entspann sich zwischen ihm, den beiden Fremden und Ceretic sofort ein aufgeregtes Gespräch. Ordulf verstand kein Wort und vermutlich ging es Hengist nicht besser.
Endlich wandte sich Ceretic an den Sachsenfürsten. Horsa und Willerich rückten heran, um ebenfalls zu hören, was die Boten berichteten. Unter den Sachsen begannen derweil wilde Spekulationen zu kreisen.
„Sie brauchen uns nicht mehr und wir sollen wieder umdrehen“, argwöhnte Thiadmar.
„Vielleicht hat uns der Feind umgangen?“, vermutete Gerolf, doch da löste sich Hengist selbst aus der Gruppe der Reiter und trabte in die Mitte des Zuges, sodass ihn alle gut sehen und hören konnten.
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